Vertrauen haben

Vertrauen haben · Beziehung Leben · Otto Friedrich Bollnow

Nur in einer Atmosphäre des Vertrauens kann sich menschliches Leben würdig und fruchtbar entfalten.

Wenn es also gelingen soll, aus dem gegenwärtigen Zustand, der so reich an Krisen ist, herauszukommen, dann muss gewagt werden, ein Vertrauensverhältnis zum anderen Menschen, zur politischen Entwicklung und zum Leben überhaupt zu gewinnen.

Vertrauen hängt sprachlich mit ‚Trauen‘ zusammen. Ich traue einem anderen Menschen, wenn ich sicher glaube, dass ich von ihm nichts Nachteiliges zu erwarten habe.

Ich traue ihm nicht oder, wie man gern sagt, ich traue ihm nicht über den Weg, wenn ich das unbehagliche Gefühl habe, dass er irgend etwas Böses anstellen könnte.

Man sagt auch, ich traue einem Menschen etwas zu, beispielsweise eine Leistung, wenn man glaubt, dass er dazu die nötigen Fähigkeiten hat. Man hat also zu ihm Zutrauen. Man kann dem Menschen auch etwas Böses zutrauen, beispielsweise einen Diebstahl, wenn man auf Grund der sonstigen Kenntnisse seines Charakters meint, dass er dazu fähig sei.

Trauen dagegen kann man einem anderen Menschen nur im positiven Sinn. Und hieraus entwickelt sich dann das Vertrauen als ein geistiges Trauen. Im Unterschied zum bloßen Zutrauen geht das Vertrauen aber nicht auf die besondere Leistung, die ich von ihm erwarte, sondern auf den Menschen im Ganzen. Ich habe Vertrauen zu einem Menschen, das heißt: ich fühle mich bei ihm geborgen.

Vertrauen ist in dieser Weise die einseitige Beziehung des einen Menschen zum anderen. Wo dagegen zwei Menschen sich gegenseitig in der Weise des Vertrauens entgegenkommen, entsteht zwischen ihnen das Verhältnis der Vertrautheit. Sie kennen einander gut, sie wissen, dass sie sich aufeinander verlassen können.

Sie können die argwöhnische Aufmerksamkeit, die sie sonst in der Welt zu wahren pflegen, hier aufgeben und sich unbefangen, deckungslos und ohne Vorsicht geben, wie sie sind.

So bildet sich innerhalb der größeren und immer irgendwie unbehaglichen Welt ein engerer Umkreis der Bezügeintimität. Es ist der des Hauses und der Familie, allgemein der des Heimischen, und alle Sicherheit des menschlichen Lebens beruht darauf, dass sich so in der feindlich auf den Menschen eindringenden Welt ein solcher Bereich ausbildet, in dem sich der Mensch ‚zu Hause‘ fühlen kann.

Vertrauen im eigentlichen Sinne gibt es nicht zu einer Sache, sondern nur zu einem Menschen, einer höheren Macht, einem Tier oder einer Idee, das heißt einem Wesen oder einem Umstand die sich meiner Berechnung entziehend einen freien Willen bzw. eine eigene Entwicklung haben können.

Vertrauen schließt darum immer ein Wagnis ein, es bedeutet, dass der Mensch sich auf etwas verlässt, für das er keine absolute Sicherheit haben kann. Und wenn er dabei trotzdem seiner Sache gewiss ist, so beruht das auf ganz anderen Voraussetzungen, nämlich auf dem unbedingten Glauben.

Insofern erhebt sich das Vertrauen über alle sachlich zu begründenden Verhältnisse und bezeichnet eine allgemeine Atmosphäre, in der ich, ohne das Verhalten des anderen Menschen im Einzelnen zu kennen, doch gewiss bin, dass er in meinem Sinn richtig handeln wird, man ihm insofern seine persönliche Freiheit der Entscheidung lassen kann und muss.

Eine solche Atmosphäre des Vertrauens ist von höchster Bedeutung für das gesamte menschliche Leben. Nur wo der Mensch sich vom Vertrauen getragen fühlt, da kann er sich entfalten. Wo ihm dagegen Misstrauen entgegentritt, da muss er zurückbleiben und schließlich verkümmern.

Vertrauen ändert den anderen Menschen. Der Mensch, den ich für ehrlich, zuverlässig, fähig zu allem Guten und Schönen halte, der wird dadurch auch zuverlässig, ehrlich und zu allem Guten und Schönen fähig. Der Mensch dagegen, den ich für faul, verlogen und unbegabt halte, der muss unter diesem meinem Urteil verkümmern und wird schließlich so faul, verlogen und unbegabt, wie ich ihn halte.

Das gilt allgemein, wo ein Mensch für den anderen erzieherisch verantwortlich ist. Das gilt auch im Zusammenleben der Erwachsenen. Aber das gewinnt ganz besondere Bedeutung im Verhältnis zum Kind. Von der Kraft des Vertrauens seiner Eltern und Lehrer hängt es ab, was sich im Kind entwickelt. Und es ergibt sich für diese daraus geradezu eine Pflicht zum Vertrauen.

Aber umgekehrt ist diese fördernde Kraft des Vertrauens nicht die zwangsläufige Wirkung eines Naturgesetzes. Jedes Vertrauen ist immer ein Wagnis. Es kann auch enttäuscht werden. Daher verlangt es einen persönlichen Einsatz, den der Erzieher jedesmal neu und auch nach den unvermeidlichen Enttäuschungen immer wieder aufbringen muss, wenn sein Werk gelingen soll.

Wenn in gesellschaftlicher oder politischer Hinsicht wegen der Unberechenbarkeit des Systems kein Vertrauen mehr möglich erscheint, bleibt immer noch die Möglichkeit das System zu ändern.

Wird vom System hingegen dem Menschen Vertrauen entzogen, kann die Enttäuschung in Aufruhr und Abwendung münden.

Man könnte von einem Lebensvertrauen oder einem Seinsvertrauen sprechen, um diese allgemeine Art zu kennzeichnen, wie sich der Mensch von seinem Leben getragen und im Ganzen des Seins geborgen fühlt.

Menschliches Leben kann grundsätzlich nur dort gesund bleiben, wo es von einem Seins- und Lebensvertrauen getragen ist; es zerfällt, wo dieses verloren geht.

Nur wer vertraut, ist imstande, die mannigfaltigen Erfordernisse in der Welt richtig zu erfüllen; wer aber nicht zu vertrauen vermag, der ist preisgegeben der hoffnungslosen Einsamkeit seines sinnlos gewordenen Ich.

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