Urgesten der Triebe

Urgesten der Triebe · Alltagspsychologie · R.M.F

Im folgenden wollen wir unsere Sonde tiefer führen, müssen nicht nur die Tatsache, dass sich die Seele körperlich ausdrückt, im allgemeinen erhärten, sondern wollen auch die Verständlichkeit dieses Ausdrucks im einzelnen darlegen.

Es gilt zu zeigen, dass sich jede Regung der Seele eindeutig, in nachprüfbaren Formen äußert. Und diesen Nachweis können wir erbringen, nicht so freilich, dass wir jedes einzelne Wellchen, das den Spiegel der Seele kräuselt, sorgfältig nachzeichnen, wohl aber so, dass wir den am deutlichsten abgehobenen Gefühlen nachgehen und ihren körperlichen Ausdruck verständlich machen wollen.

Erinnern wir uns, dass wir den Begriff des Lebens in sieben Grundtendenzen spalteten, die sich alle in der Seele als bestimmte Gemütsbewegungen spiegeln. Schon früher haben wir hervor gehoben, dass jeder Trieb sich körperlich als Bewegungsdisposition, als Tendenz zur Bewegung, darstellt, und dass jeder Bewusstseinsvorgang eng an solche Bewegungen geknüpft ist.

Mit jeder Gemütsbewegung ist also in später noch tiefer zu erfassendem Sinn eine körperliche Bewegung verbunden, und zwar nicht zufällig, sondern in innerer Notwendigkeit. Ändert sich der Affekt, so ändert sich auch das körperliche Geschehen, ändert sich die körperliche Bewegung, so ändert sich ebenso der Affekt.

Soviel können wir sagen, ohne die Frage nach Ursache und Wirkung überhaupt zu berühren. Soweit diese körperlichen Vorgänge äußerlich wahrnehmbar werden, können sie als Ausdruck gelten, und demgemäß steht der Ausdruck in notwendiger Beziehung zum Seelenleben.

Zugegeben, dass wir den Ausdruck, etwa der Furcht, beherrschen können; aber indem wir ihn beherrschen, ist in der Seele neben der Furcht bereits eine neue Regung entstanden, deren Ausdruck wiederum die Beherrschung, das heißt die Hemmung jenes Furchtausdrucks ist. Nennen wir die besondere Motorik eines Urtriebs seine Urgeste, so müssen wir also zu jedem Urtrieb die ihm notwendig zuzuordnende Urgeste finden.

Diese tritt bei den Trieben der inneren Betriebserhaltung des Organismus am wenigsten hervor, weil sie eben als innere Vorgänge wenig nach außen strahlen. Nur insofern, als sich seelische Frische auch als körperliche Frische, das heißt erhöhte Beweglichkeit, seelische Mattheit auch als körperliche Mattheit oder in anderen Fällen auch als nervöse Unruhe äußert, kann man hier von körperlichem Ausdruck sprechen.

Weit deutlicher tritt bei den anderen Lebenstendenzen, die alle mehr in die Außenwelt hinein wirken, der körperliche Ausdruck zutage. Und jeder dieser Triebe hat, wie er ja eine Beziehung zur Außenwelt, zum Überschreiten der körperlichen Grenze einschließt, eine deutlich nach außen wirkende Motorik, eine allerdings mannigfach variierte Urgeste, was sich schon darin offenbart, dass wir diese Triebe und Affekte kaum anders sprachlich bezeichnen können, als dass wir körperliche Metaphern gebrauchen:

Ein feines Ohr hört in Begriffen wie Selbsterhöhung und Selbsterweiterung, in freundlicher Anziehung oder Neigung, in Abstoßung oder Ablehnung den motorischen Ursinn aus der metaphorischen Verblassung heraus.

Gesten der Selbsterhöhung:

Zunächst die Triebe und Affekte der Selbsterweiterung, das heißt die Erwerbs- und Jagdbegierde, die Hab- oder Eroberungssucht! Ihre Urgeste ist das Zugreifen, die Geste des Haschens oder doch der Bereitschaft dazu. Man denke sich lebhaft in eine Lage, in der man gierig etwas begehrt:

Alle Glieder nehmen, selbst wenn der Gegenstand des Begehrens nur vorgestellt, die Haltung des Zupackens oder doch der Bereitschaft dazu an. Der Körper, Rumpf wie Kopf, auch die Beine inbegriffen, machen sich gleichsam sprungbereit, beugen sich vor, spannen sich.

Die Hände öffnen sich zu greifender Bewegung, ja führen diese wirklich oder symbolisch aus. Die Augen treten aus dem Kopf hervor, die Nase zieht, wiederum eine symbolische Geste, heftig Luft ein, wie auch die Lunge keuchend atmet. Der Mund öffnet sich wie zum Zuschnappen, kurz, der ganze Körper nimmt eine Haltung an, die sich dadurch als Urgeste erweist, dass sie kaum anders ist als die Haltung des sprungbereiten Raubtiers.

Urtriebe äußern sich in Urgesten, und diese sind fürs Begehren das Zugreifen, Festhalten, Heranziehen, dem Körper Angliedern des Gegenstandes. Dass die meisten dieser Gesten beim Menschen symbolisch geworden sind, wird später genauer zur Sprache kommen.

Die Gefühle der Selbsterhöhung lassen hinsichtlich des Ausdrucks eine Doppelheit hervortreten, die man als Würde und Anmut unterschieden hat, denen auch eine Doppelheit der Affekte: solche der schweren Selbsterhöhung (Stolz, Machtgefühl, Feierlichkeit) und solche der leichten Selbsterhöhung (Heiterkeit, Freude, Jubel) entsprechen.

Was die Urgeste dieser Gefühle sei, sagt bereits ihre Definition als Selbsterhöhung, eine Ausdruckstendenz, die jedoch die schweren Affekte durch reale Vergrößerung, die leichten durch ideale, das heißt nur vorgespiegelte Erhöhung, vor allem die Vorspiegelung des Schwebens, der Gelöstheit von der Erde auszudrücken suchen.

Je nach den Organen, die verwendet werden, nimmt die Urgeste höchst mannigfache Formen an.

Schwere Form der Selbsterhöhung:

Zunächst die schwere Form, die auf reale Vergrößerung ausgeht: Rumpf und Rückgrat stellen sich steil, die Knie sind durchgedrückt, die Schultern werden zurück geworfen, der Kopf hoch erhoben. Schritt und Armgesten sind wuchtig, damit gleichsam die Gewichtigkeit des erhöhten Selbst ausdrückend.

Das Auge schaut von oben nach unten, ebenso sind die Mundwinkel leicht herabgezogen, so die Erhöhtheit des Ich zum Ausdruck bringend, was noch durch andere Gesten: gehobene Brauen, gerümpfte Nase, kurz ausgestoßenen Atem und anderes mehr zur Schau getragen wird.

Leichte Form der Selbsterhöhung:

Die leichte Form, deren Urgeste das Schweben ist, sucht ihre Leichtigkeit, Gelöstheit vom Boden, Freiheit vor allem durch erhöhte Beweglichkeit auszudrücken: der Rumpf wiegt sich geschmeidig hin und her, die Beine führen tänzelnde, wippende, hüpfende Bewegungen aus, was bei stärkerem Grad der Freude in wirkliche Sprünge in die Luft übergeht.

Desgleichen vollführen die Hände aufstrebende, rasche, flatternde Bewegungen, die ebenfalls das Emporstreben und Schweben symbolisieren. Der Blick schweift offen und frei umher, der Mund lächelt oder lacht. Kurz, der ganze Körper variiert die Urgeste der Selbstvergrößerung, sei es als reale Vergrößerung des Volumens, sei es als ideale Vergrößerung des Wirkungsradius, als Freiheit seiner Motorik.

Gesten der Selbstverkleinerung:

Das genaue Gegenbild des Selbsterhöhungsausdrucks bietet der Ausdruck der depressiven Gefühle: der Unsicherheit, Furcht, Kleinheit. Wie dort die Selbsterhöhung, ist hier die Selbstverkleinerung Urgeste, mit der sich, nicht so scharf geschieden wie bei der Selbsterhöhung, die Gehemmtheit, Langsamkeit, Gelähmtheit der Bewegungen verbindet, falls nicht ein krampfiges Zittern eintritt.

Das Ich sucht sich, gleichsam um vorgestellten Gegnern unsichtbar zu werden, klein zu machen, was sich in extremen Fällen zur Tendenz des wirklichen Entschwindens, der Flucht, steigert. Das Rückgrat krümmt sich, die Schultern senken sich, die Knie knicken ein, die Arme sinken herab, der Kopf duckt sich oder scheint sich zwischen den Schultern zu verkriechen.

Alles drückt die Tendenz nach unten, zur Kleinheit aus. Das Auge schaut scheu von unten nach oben, der Mund zieht sich krampfhaft zusammen, in stärkeren Graden tritt Weinen auf. An die Stelle des Freiheitsausdrucks in der Bewegung bei der Selbsterhöhung tritt hier die Unfreiheit:

Der Schritt wird zögernd, schleichend, hat die Tendenz nach rückwärts. Arme und Finger zeigen Lähmungs- oder Krampferscheinungen. Kurz – der gesamte Mensch variiert in allen Bewegungen und Haltungen die Urgeste der Selbstverkleinerung.

Gesten der feindlichen Affekte:

Die Urgeste der feindlichen Affekte ist die des Abstoßens des anderen, verbunden mit Bewegungen des Schlagens, Niederwerfens, Vernichtens. So äußern sich Hass, Zorn und Wut. Die Füße führen stampfende Bewegungen aus, als wollten sie den Gegner niedertreten, die Hand ballt sich zur Faust oder formt sich krallenartig wie zum Kratzen. Die Arme strecken sich vor wie zum Zurückstoßen oder Fernhalten des Gegners, die Stirn runzelt sich, die Augenbrauen ziehen sich zusammen, der Blick ist wild, alles wie um den Gegner zu schrecken.

Die gleiche Tendenz verrät das verzerrte Gesicht, die Zähne treten wie zum Biss gerüstet hervor, das Kinn strebt trotzig nach vorn. Unschwer erkennt man auch in diesen Gesten Bewegungen wieder, die wir schon beim gereizten, zum Angriff gerüsteten Tier finden, und die sich bereits dadurch als Urgesten erweisen.

Gesten der freundlichen Affekte:

Das umgekehrte Bild bietet die Motorik der freundlichen Affekte: an Stelle der Gesten des Abstoßens, der Trennung vom anderen tritt die der Annäherung, ja der Vereinigung mit dem anderen. Dieses Streben nach Einswerden, nach Gemeinschaft zeigt sich nicht nur räumlich, sondern auch qualitativ, als Anpassung und Angleichung.

Statt vom anderen abzurücken, strebt man zu ihm hin; Arme und Hände suchen Berührung, sind geöffnet, weich, entgegenkommend. Ebenso ist der Blick offen, sucht dem des anderen zu begegnen, der Mund lächelt und sucht den Widerschein dieses Lächelns beim Anderen zu erzeugen. Statt zu schrecken, strebt die ganze Physiognomie zu gewinnen, vor allem durch Anpassung und Angleichung, indem man die Gesten des anderen nachahmt, meist ohne es zu wollen und zu wissen.

Man geht im gleichen Schritt, man lässt Auge in Auge ruhen, der Ton der Stimme sucht zu schmeicheln und zu kosen: kurz, wir erhalten als Urgeste dieser Affekte das vollendete Gegenbild der Urgeste des Abstoßens und Trennens im feindlichen Affekt.

Gesten der Sexualtriebe:

Mancherlei Ähnlichkeit mit den Gesten der freundlichen Annäherung zeigen die der geschlechtlichen Beziehung, obwohl ihr Grundcharakter wesentlich verschieden ist. Die Urgeste der Sexualtriebe ist die körperliche Vermischung, Durchdringung, also die höchste Steigerung der Annäherung.

Die meisten Gesten jedoch sind nur Vorbereitung dazu. Nach der Verschiedenheit der Geschlechter freilich scheiden sich die Formen: der Mann ist aktiver, die Frau passiver. Das Werben des Mannes ist ein Zugreifen, Festhalten, verführendes Berühren; das Werben der Frau ist das Stillhalten, Gewährenlassen, oft jedoch auch ein kokettes Spiel von Zurückweichen, Sichentziehen, um die Triebe des Mannes zu steigern.

Diese ganze Motorik findet Erfüllung erst in der Umarmung, der Umschlingung, dem Kuss, alles symbolisch für die letzte Hingabe des einen an den anderen, die restlose Verschmelzung, aus der ein neues Wesen erwächst, in dem die Lebensströme des sich vereinigenden Paares zu neuem, eigenem Lebensstrom zusammen rinnen.

Nur in raschen Strichen konnten wir die Bilder der Mimik der einzelnen Affekte zeichnen: und doch offenbart bereits die Einheitlichkeit dieser Bilder in sich, die alle nur die jeweilige Urgeste variieren, ebenso wie die konsequente Gegensätzlichkeit dieser Urgesten zeigen, dass in all diesen Dingen nicht Zufall, sondern Notwendigkeit waltet.

Wir wissen meist selbst nicht, wie konsequent wir sind, wie viel von unserer Seele wir in jedem Augenblick unseres Daseins zum Ausdruck bringen.

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Autor: R.M.F

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Achtsamkeit ist nicht schwierig, wir müssen uns nur daran erinnern, achtsam zu sein.
Sharon Salzberg