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73 · Rausch als Nutzen · Alltagspsychologie

Rausch als Nutzen · R.M.F · Alltagspsychologie

Man pflegt im allgemeinen den Rausch als rein ästhetisches, das heißt allen Nutzformen des Lebens entgegengesetztes Phänomen anzusehen. Indessen lässt tiefer bohrende Forschung auch hinter den Rauschzuständen ursprünglichen Nutz-Charakter erkennen.

Es ist für gewisse Höchstleistungen des Lebens unentbehrlich, dass die gewöhnliche Ich-Vorstellung ausgeschaltet wird, dass alle Lebensenergien in einer einzigen Richtung zusammengeballt werden und die Seele sich gleichsam in einen Zustand höchster Glut steigert.

Infolgedessen sehen wir den Rausch vor allem in der erotischen Erregung aufglühen. In nüchternem Zustand würden Individuen vermutlich zögern, sich diese Lasten aufzuladen. Im lohenden Rausch der Leidenschaft, in dem alle Grenzen der Individualität entschwinden, kommen deshalb solche Überlegungen nicht auf.

Der Rausch ist hier eine im Dienst der Gattung stehende Nutzform, die vom Individuum als ästhetisches Phänomen erlebt wird. Desgleichen ist der Kampf-Rausch, jenes Schwinden aller Angst für das eigene Leben, das der Soldat im Sturmangriff erlebt, ebenfalls eine Nutzform des Daseins; denn dieser Rausch befähigt ihn zu Taten, die in nüchterner Erwägung nicht möglich wären. Auch die chemischen Rauschmittel und der Alkohol, werden in den Dienst dieser Nutzformen gestellt.

Immerhin, die weitaus meisten Rauschzustände werden nicht als Nutzformen, sondern als ästhetische Erlebnisse gesucht. Je mehr die Kultur sich verfeinert, um so raffinierter werden die Mittel und Formen der Rausch-Erzeugung, ja man sucht dem ganzen Leben einen gewissen Rausch-Charakter zu geben.

Wenn man das Leben des vornehmen Großstädters mit dem eines Bauern vergleicht, so fällt deutlich ins Auge, dass das Leben des ersteren im Vergleich mit dem des Landmannes ein kontinuierlicher Rausch ist. Das Tempo des Erlebens wird in der gleichen Weise gesteigert, wie es im Rauschzustand erscheint.

Intensität, Grellheit und Buntheit der Eindrücke bestürmen die Seele. Man hat keine Zeit mehr, sich auf sich selbst zu besinnen. Man hetzt durch aufregende Arbeit in noch aufregenderes Vergnügen hinein. Was die Landbevölkerung mit so magischer Macht in die Stadt treibt, was das Großstadt-Volk selbst sogar unter gräulich sozialen Verhältnissen dort festhält, ist der Abglanz des erhöhten Lebens, der auf ihre Pflaster-Wege fällt aus Bars und Kinos, aus Tanzsälen und Theatern.

Stehen wird auch nur an den Gittern dieses Rausch-Daseins, das die oberen Hunderttausend vorleben, so fühlen sich doch davon viele angezogen wie Motten vom Licht und verbrennen sich die Flügel dabei. Denn der Rausch, so wichtig er als seltener Ausnahmezustand auch sein mag, wird zum Gift, sobald er zur dauernden Verlüstelung des Lebens wird.

Der Großstadtrausch ist Unnatur, und doch findet man, so seltsam verschränken sich die Daseinslinien, einen Weg zurück zur Natur, indem man die Natur selbst zum Rauschmittel macht (z.B. Extremes Bergsteigen).

Rousseaus berühmter Ausruf »Zurück zur Natur!« heißt im Munde des Großstädters: »Vorwärts zu neuen Rauscherlebnissen durch die Natur!«. Die Natur, die der Großstadtmensch auf Ausflügen und Reisen sucht, ist nicht die gleiche Natur, worin der seinen Acker bestellende Bauer lebt.

Aber sie ist Rausch, weil der Stadtmensch in ihr gehäufte Eindrücke und gesteigertes Leben bis zum Sich-Selbst-Vergessen findet. Der Bauer kennt derartiges nicht; wenn er überhaupt die Natur liebt, so liebt er sie, wie er seine Mutter liebt, ohne große Worte; der Stadtmensch dagegen liebt die Natur wie eine Geliebte, sehnsüchtig, leidenschaftlich und sich in ihrem Besitz berauschend.

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Die Natur muss gefühlt werden.


Alexander von Humboldt