Hauptformen der Erlebnisse · R.M.F · Alltagspsychologie
Nicht bloß kennen wollen wir die Menschen, das heißt sie nach ihrem seelischen Typus klassifizieren, wie Zoologen ihre Tiere, wir wollen sie auch »verstehen«.
Wir wollen wissen, wie sich dieser Typus heraus gebildet hat, und wenn wir auch bei keinem an den Urquell seines Lebens, der unendlich weit jenseits von Geburt und Mutterleib liegt, zurück gehen können, vermögen wir doch, aus dem Einfluss formbildender Erlebnisse uns seine Geschichte ein wenig verständlich zu machen.
Wie es den Biologen gelungen ist, die Entstehung der Arten in wesentlichen Zügen aufzuhellen, indem sie die Faktoren der Entwicklung klar gelegt haben, so muss es auch dem Psychologen gelingen, wenigstens grundsätzlich die Faktoren zu bestimmen, die dem individuellen Lebenslauf seine Gestalt geben.
Vorauszusetzen also ist eine als solche niemals genau zu errechnende Struktur des leiblich-seelischen Organismus, das Erbgut der Ahnen, eine Struktur, die sich als einigermaßen bestimmte, wenn auch mannigfach variable »Richtung des Lebenswillens« darstellt.
Das so gerichtete Individuum nun wird von früh auf umdrängt von Einflüssen, unter denen es auswählt, die aber auch sein Wesen beeinflussen. Geschieht das, so sprechen wir von »Erlebnissen«, die wir nun, je nach dem Verhältnis, das zwischen Richtung und Einfluss bestehen kann, in folgende Gruppen sondern:
Zunächst gibt es richtungsgemäße und richtungsverstärkende Erlebnisse, das heißt, das Ich wird durch äußere Einwirkungen in seiner Eigenart unterstützt. Ein von Natur zu heiterer Selbstsicherheit veranlagter Mensch wird durch heitere und glückliche Jugendeindrücke noch heiterer und sicherer gemacht, eine von Natur zur Ängstlichkeit veranlagte Seele durch düstere Eindrücke noch mehr verschüchtert.
Andere Erlebnisse wirken richtungbesondernd, sei es, dass sie einer von Natur wenig ausgeprägten Struktur erst ein bestimmtes Gepräge ausbilden helfen, sei es, dass sie eine allgemeine Anlage in eine speziellere Richtung drängen. So gibt es Menschen mit sehr allgemeiner künstlerischer Anlage, die unentschieden schwanken, welcher Art der Kunst sie sich zuwenden wollen: Goethe, Richard Wagner, Otto Ludwig oder Gottfried Keller sind Beispiele dafür.
Ein bestimmter äußerer Anlass kann da richtungsgebend wirken, indem er aus mehreren Möglichkeiten eine einzelne hervorhebt. Die Wahl des Berufs wirkt bei den meisten Menschen richtungbesondernd, da der Beruf zwar ungefähr der Anlage gemäß gewählt zu werden pflegt, aber doch zugleich dieser Anlage ein spezielleres Gepräge gibt.
Diese Richtungsbeeinflussung kann jedoch auch eine Richtungsablenkung sein, indem eine Anlage in eine ihr nicht völlig gemäße, wohl aber verwandte Bahn gedrängt wird. Diese Ablenkung kann von leichter Abdrehung bis zu völliger Entgleisung führen. Es kann ein geborener Bildhauer durch starke äußere Einflüsse in die Malerei getrieben werden, was sich in seinem Werk später stets geltend macht. Es kommt jedoch auch vor, dass ein geborener Künstler in die Wirtschaft oder die Politik abgetrieben wird, was stets zu schmerzlichen Konflikten, oft zum Ruin des Lebens führt.
Damit kommen wir bereits an die konträren Erlebnisse heran, das heißt Einflüsse, die sich von außen aufzwingen und die angeborene Struktur völlig zerrütten können. Gewiss kann der Fall eintreten, dass das Ich auch dieser Erlebnisse Herr wird, dass sie es nicht umwerfen, sondern stärker machen, was meist erst nach schweren Kämpfen geschieht. Es kann jedoch auch sein, dass die konträren Erlebnisse im Individuum sehr seltsame Brüche und Risse erzeugen, die niemals ausheilen, sondern als seelische Wunden ein ganzes Leben hindurch eitern und oft unheimliche Folgen zeigen.
Besonders beachtet hat man unter den konträren Erlebnissen gerade die, die am schwersten zu ermitteln sind, die verdrängten Erlebnisse, das heißt solche, die vom Bewusstsein, das sie nicht, wie der Organismus einen Splitter auseitert, auszustoßen vermag, gleichsam eingekapselt und ins Unterbewusstsein abgeschoben werden, von wo aus sie jedoch oft genug unter seltsamen Verkappungen wieder ins Bewusstsein drängen.
Die moderne Psychoanalyse glaubt, die Störungen, die durch solche verdrängten Erlebnisse hervorgerufen werden, dadurch heilen zu können, dass sie die versenkten Komplexe wieder ausgräbt, ins Bewusstsein zieht und dadurch Gegenkräfte auslöst. Das mag manchmal heilend wirken, es kann jedoch den latenten Konflikt auch geradezu verstärken und noch akuter machen.
Eine besondere Gattung von Erlebnissen bildet sich dort aus, wo die adäquaten Eindrücke ganz ausbleiben, ohne dass ablenkende oder konträre Einflüsse sich durchsetzen. Dann schafft sich, besonders bei starker Fantasiebegabung, das Individuum selbst seine Erlebnisse, wenn auch nur in der Vorstellung, obwohl es oft genug diese Vorstellung in der Wirklichkeit zu finden glaubt, sie in die Wirklichkeit hinein zieht.
Man spricht in diesem Fall von imaginativem Erlebnis (Imago). So kommt es vor, dass Menschen, die ihren Ehrgeiz in der Realität nicht durchzusetzen vermögen, sich in ein eingebildetes Erleben hinein fantasieren, das für sie die Wirklichkeit bis zu gewissem Grad ersetzt.
Als letzte Gattung von Erlebnissen sei noch das wiederkehrende, typische Erlebnis genannt, das sich oft in rhythmischer Folge wiederholt, wie das Thema in einem Rondo, also dass ein Individuum immer wieder in die gleichen Konflikte gerät, immer wieder in die gleichen Gruben fällt.
Dass das möglich ist, ist leicht aus dem Wesen des »Erlebens« einzusehen, das stets mehr von innen als von außen bestimmt ist, das selber auswählt nach seinen Instinkten und daher, auch wenn es noch so trübe Erfahrungen gemacht hat, mit Notwendigkeit stets wieder in die gleichen Lebenslagen kommt.
Aus hier wieder gilt es, diese Erkenntnisse, damit sie lebendig werden, am Leben selbst zu erproben. Man überschaue das eigene Leben, das seiner Bekannten oder das bedeutender Menschen, das uns in Biographien offen liegt, und man wird den Einfluss solcher Erlebnisse überall bestätigt finden. Man wird finden, dass sich die Entwicklung in ihren oft seltsamen Zickzackbewegungen von hier aus begreifen lässt.
Es sei hier nur kurz an einer Gattung von Erlebnissen, und zwar den erotischen, illustriert, weil diese sich verhältnismäßig spät, also dem Bewusstsein am meisten zugänglich, abspielen. Oft ist besonders das erste Liebeserlebnis bestimmend für ein ganzes Dasein. Zunächst ist natürlich wesentlich, dass überhaupt ein solches Erlebnis eintritt, dass der Trieb durch eine geeignete Begegnung in normaler, gesunder Weise entwickelt wird.
Bleibt, bei Ausschluss vom anderen Geschlecht, in sehr eingeengten Erziehungsanstalten zum Beispiel, die natürliche Erfüllung aus, so sind oft Ablenkungen und krankhafte Ersatzbildungen die Folge.
Halten wir uns jedoch zunächst an den normalen Fall, dass ein im großen und ganzen richtungsgemäßes Erlebnis eintritt, so erfährt diese Richtung doch eine Besonderung durch die Art des Wesens, auf das es sich richtet. Es ist nicht gleichgültig, ob der erste Gegenstand der Liebe eines Jünglings eine Dirne oder ein edles Mädchen ist. Die Richtung des erotischen Instinktes und damit des ganzen Charakters kann durch solche erste Begegnungen für das ganze Leben beeinflusst werden.
Blicken wir ins Leben Goethes hinein, so ist sicherlich tief bedeutsam für seine Entwicklung, dass seine erste Neigung einem Mädchen galt, das eine ungeistige Sinnlichkeit vor allem weckte, was bis in des Dichters späte Ehe hinein nachwirkte. Freilich ist schwer zu sagen, ob diese Besonderung des Triebs nicht bereits eine Ablenkung war. Die spätere, jahrelange Neigung zu der sehr unsinnlichen Charlotte von Stein lässt es fast annehmen.
Tief tragisch werden oft Erlebnisse, die nicht geringe Ablenkung, sondern völlige Pervertierung zur Folge haben. Es ist ja eine umstrittene Frage, ob solche Abirrungen der normalen Triebe angeboren sein können. In den meisten Fällen treten sie durch Erlebnisse ein, frühe Verführung, besonders bei Ausschluss richtungsgemäßer Erlebnisse. Gewiss kann derartiges später »verdrängt« werden, es kann überwunden und ins Unterbewusstsein abgeschoben werden, aber auch von dort her wirkt es oft noch störend und quälend ins bewusste Leben hinein.
In helleren Regionen bleiben wir, wenn wir die wiederkehrenden, typischen Erlebnisse beachten, dass die meisten Männer einen »Typus« der Frau haben, den sie immer wieder umwerben.
Es ist freilich oft schwer festzustellen, was das »Typische« im Erleben ausmacht. Oft sind auch mehrere Typen nebeneinander wirksam, aber es ist zum Beispiel keineswegs ein Zufall, dass — um wieder Goethe heranzuziehen — Marianne von Willemer der Christiane Vulpius unzweifelhaft äußerlich ähnlich war.
Letztlich die imaginativen Erlebnisse! Sie treten ein, wenn ein geeignetes Objekt fehlt, und schaffen sich oft reine Fantasiegestalten. Oft aber umsinnen sie auch ein reales, aber ganz unadäquates Objekt mit fantastischen Schleiern, so dass dieses für den Liebenden völlig verwandelt ist und in himmlischen Höhen zu schweben scheint.
Gerade die »Blindheit«, die »Vergötterung« in der Liebe zeigt deutlich, dass im Geistigen wie im Physischen die »Disposition« fast alles, die »Infektion« sehr wenig ist.
Hauptformen der Erlebnisse · R.M.F · Alltagspsychologie
Der Weg zu allem Grossen geht durch die Stille.
Friedrich Nietzsche