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Die Nachtigall singt

Die Nachtigall singt · Wolfgang Borchert · Krieg Tod und Leben

Wir stehen barfuß im Hemd in der Nacht und sie singt. Herr Hinsch ist krank, Herr Hinsch hat den Husten. Er hat sich im Winter die Lunge verdorben, weil das Fenster nicht dicht war. Herr Hinsch wird wohl sterben. Manchmal dann regnet es. Das ist der Flieder. Der fällt violett von den Zweigen und riecht wie die Mädchen. Nur Herr Hinsch, der riecht das nicht mehr. Herr Hinsch hat den Husten.

Die Nachtigall singt. Und Herr Hinsch wird wohl sterben. Wir stehen barfuß im Hemd und wir hören ihn. Das ganze Haus ist voll von dem Husten. Aber die Nachtigall singt die ganze Welt voll. Und Herr Hinsch wird den Winter nicht los aus der Lunge. Der Flieder, der fällt violett von den Zweigen. Die Nachtigall singt. Herr Hinsch hat einen sommersüßen Tod voll Nacht und Nachtigall und violettem Fliederregen.

Timm hatte nicht solchen Sommertod. Timm starb den einsam eisigen Wintertod. Als ich Timm ablösen wollte, da war sein Gesicht sehr gelblich im Schnee. Es war gelb. Das kam nicht vom Mond, denn der war nicht da. Doch Timm war wie Lehm in der Nacht. So gelb wie der Lehm in den nasskalten Kuhlen der Vorstadt zu Hause. Da haben wir früher gespielt und Männer aus dem Lehm gemacht. Aber ich habe nie gedacht, dass Timm auch aus Lehm sein könnte.

Als Timm auf Posten ging, wollte er den Stahlhelm nicht mithaben. Ich fühle die Nacht ganz gern, sagte er. Sie müssen den Helm mitnehmen, sagte der Unteroffizier, kann immer mal was passieren und ich bin dann der Dumme. Ich bin nachher der Dumme. Da sah Timm den Unteroffizier an. Und er sah durch ihn durch bis ans Ende der Welt. Dann hielt Timm eine von seinen Weltreden:

Die Dummen sind wir sowieso, sagte Timm an der Tür, wir alle Mann sind sowieso die Dummen. Wir haben den Schnaps und den Jazz und die Stahlhelme und die Mädchen, die Häuser und die chinesische Mauer und Lampen – alles das haben wir. Aber wir haben es aus Angst. Gegen die Angst haben wir das. Aber die Dummen bleiben wir immer.

Wir lassen uns aus Angst photographieren und machen Kinder aus Angst und aus Angst wühlen wir uns in die Mädchen, immer in die Mädchen, und die Dochte stecken wir aus Angst in das Öl und lassen sie brennen. Aber die Dummen bleiben wir doch. Alles das tun wir aus Angst und gegen die Angst. Und die Stahlhelme haben wir auch nur aus Angst. Aber helfen tut uns das alles nicht.

Gerade wenn wir bei einem seidenen Unterrock oder einem Nachtigallengestöhn unser Leben vergessen, dann erwischt sie uns. Dann hustet sie irgendwo. Und dann hilft uns kein Stahlhelm, wenn die Angst uns erwischt. Dann hilft uns kein Haus und kein Mädchen, kein Schnaps und kein Stahlhelm.

Das war eine von Timms großen Reden, von den Weltreden, die er hielt. Die hielt er an die ganze Welt und dabei waren wir nur sieben Mann im Bunker. Und die meisten schliefen, wenn Timm seine Weltreden hielt.

Dann ging er auf Posten, der Weltredner Timm. Und die andern, die schnarchten. Sein Stahlhelm lag auf seinem Platz. Und der Unteroffizier behauptete nochmal: Ich bin der Dumme, ich bin nachher der Dumme, wenn was passiert. Und dann schlief er.

Als ich Timm ablöste, war sein Gesicht sehr gelb im Schnee. So gelb wie der Lehm in den Kuhlen der Vorstadt. Und der Schnee war widerlich weiß.

Ich habe nie gedacht, dass du aus Lehm sein könntest, Timm, sagte ich. Deine großen Reden sind kurz, aber sie gehen bis ans Ende der Welt. Was du so sagst, lässt einen den Lehm ganz vergessen. Deine Reden sind immer enorm, Timm. Es sind richtige Weltreden.

Aber Timm sagte nichts. Sein gelbes Gesicht sah nicht gut aus im nachtweißen Schnee. Der Schnee war widerlich blass. Timm schläft, dachte ich. Wer so groß über die Angst reden kann, der kann auch hier schlafen, wo die Gegner im Wald sind. Timm stand in dem Schneeloch und hatte sein gelbes Gesicht aufs Gewehr gelegt.

Steh auf, Timm, sagte ich. Timm stand nicht auf und sein gelbes Gesicht sah fremd aus im Schnee. Da drückte ich Timm mit dem Stiefel gegen die Backe. Am Stiefel war Schnee. Der blieb an der Backe. Der Stiefel drückte eine kleine Kuhle in die Backe. Und die kleine Kuhle, die blieb.

Da sah ich, dass Timms Hand um das Gewehr lag. Und der Zeigefinger war noch krumm. Ich stand eine Stunde im Schnee. Ich stand eine Stunde bei Timm. Dann sagte ich zu dem toten Timm: Du hast recht, Timm, es hilft uns alles nicht.

Kein Mädchen, kein Kreuz und keine Nachtigall, Timm, und selbst nicht der fallende Flieder, Timm. Denn auch Herr Hinsch, der die Nachtigall hört und den Flieder noch riecht, der muss sterben. Und die Nachtigall singt. Und sie singt nur für sich. Und Herr Hinsch, der stirbt ganz für sich. Der Nachtigall ist das egal. Die Nachtigall singt.

Ob die Nachtigall auch nur aus Lehm ist? So wie du, Timm?

Die Nachtigall singt · Wolfgang Borchert · Krieg Tod und Leben

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Autor: Wolfgang Borchert

Bewertung des Redakteurs:
4


Meditation bringt uns in Berührung mit dem, was die Welt im Innersten zusammenhält.


Johann Wolfgang von Goethe