Die britischen Kronjuwelen

Die britischen Kronjuwelen · Krimi · Tommy Truong

Es war gegen zehn Uhr morgens, ein sonniger Tag Mitte Mai, als ich mich auf den Weg zur Arbeit machte. Ich trug meinen dunkelbraunen Anzug mit weißem Hemd, Krawatte, Einstecktuch, meine Armbanduhr und schwarze Lederschuhe. Mein schwarzes, kurzes Haar war perfekt gekämmt.

»Guten Morgen Kommissar Roberts, der Chef möchte mit Ihnen sprechen«, sagte die Sekretärin Sarah Miller am Eingang. »Das kann nichts Gutes bedeuten«, dachte ich. In meinem Büro wartete mein Chef, Herr Ryan, schon ungeduldig auf mich.

Als ich eintrat, bekam ich keinen Ärger, sondern wurde sehr freundlich begrüßt – was ungewöhnlich war.

»Hallo, Mister Roberts, haben Sie gut geschlafen?«, fragte der gut gelaunte Chef. Ohne auf meine Antwort zu warten, fuhr er fort: »Haben Sie heute einen Blick in die Zeitung geworfen?«

»Nein, Chef, am Morgen war ich in Eile«, antwortete ich. »Worauf will er hinaus?«, dachte ich.

»Die britischen Kronjuwelen im Tower of London wurden gestern gestohlen. Die Regierung ist in Aufruhr«, berichtete der Chef. Es gab noch nie ein so dreistes Verbrechen in London. »Die Königin wurde dadurch krank und Prinz Philipp forderte mich auf, den Fall zu übernehmen«, teilte Herr Ryan mir mit. »Und zwar möglichst schnell!«, ergänzte er.

»Da bleibt mir wohl nichts Anderes übrig, nehme ich an«, sagte ich.

»Genau! Ich wusste, dass Sie mich am besten verstehen«, erwiderte der Chef.

Nach ungefähr fünfzehn Minuten stand ich vor einer großen, alten Festung. In der Hand hielt ich einen Stift und einen Notizblock. Neben mir stand Tom Christian Herald in einer viktorianischen, roten Uniform. Der kleine Mann war einer der »Yeoman Warders«.

»Meine Aufgabe als Yeoman Warder ist es, den Tower of London zu bewachen und die Touristen herumzuführen«, erklärte mir Tom.

»Was wissen Sie über das Verbrechen von gestern?«, fragte ich ihn.

»Ich war gestern krank. Erst heute Morgen erfuhr ich von dem Diebstahl. Mir wurde gesagt, dass die britischen Kronjuwelen gestohlen wurden. Stimmt das?«, erkundigte sich Tom.

»Ja, das stimmt tatsächlich«, bestätigte ich. Nach dem Gespräch führte mich Tom im Tower of London herum. In der Festung roch es muffig. Die Gebäude sahen respekteinflössend aus. Ich schaute mir die Waffen und Rüstungen an, die einstigen Royal Armouries, die dem britischen Museum mit einer der größten Sammlungen für Waffen und Rüstungen der Welt gehörten, während Tom mir die Geschichte des Tower of London erzählte.

Wo die britischen Kronjuwelen gestanden hatten, waren nur noch leere Vitrinen zu sehen. Vom Täter wurden keine Spuren hinterlassen. In der Aufnahme der Überwachungskamera erkannte man eine Gestalt mit einer Sturmhaube und schwarzer Kleidung, sodass man den Täter nicht erkennen konnte.

»Der Dieb muss sich sehr gut im Tower of London auskennen«, meinte Tom. »Außerdem kann man so viele Vorhängeschlösser nicht in einer Nacht knacken, das bedeutet, dass der Täter die Schlüssel bei sich hatte!«, fügte ich hinzu. »Aber die Schlüssel für die Türen und Schlösser haben nur Vanessa und Rico! Und sie können es unmöglich gewesen sein!«, versicherte mir der Yeoman Warder.

»Wer weiß, vielleicht ist es doch einer von Ihnen gewesen«, überlegte ich. »Könnte ich ein kurzes Gespräch mit Vanessa führen?«, fragte ich, »und danach mit Rico?«

»Natürlich! Vanessa ist heute da, aber Rico habe ich noch nicht gesehen«, antwortete Tom. Als ich mich auf den Weg zu Vanessas Büro machte, stieß mich aus Versehen eine junge Frau an.

»Entschuldigung«, rief sie, »Sind Sie Kommissar Roberts?« – »Ja, das bin ich. Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich zurück. – »Hallo, ich bin Vanessa Ehlers. Es wurde gerade eine Leiche im Hinterhof entdeckt«, sagte Vanessa.

Ich musste noch nie zwei Verbrechen auf einmal aufklären, die möglicherweise von ein- und demselben Täter begangen wurden. Im Hinterhof traf ich Tom. Er erzählte mir, dass Rico tot im Gebüsch aufgefunden wurde. Um den Leichnam standen dutzende Menschen, auch Vanessa hatte sich in die Menge gedrängt.

Ich brauchte etwa fünf Minuten, um an Ricos Leichnam heranzukommen. Rico hatte eine dicke Wunde am Kopf. Seine kleine Schwester Emilia Rose schluchzte neben seinem Leichnam. In Ricos rechter Hand lag ein Handy.

»Wieso hält er das Handy in der Hand?«, fragte ich mich selbst. Auch Emilia hörte auf zu schluchzen und schaute auf Ricos Handy. Ich nahm es ihm aus der Hand und schaltete es ein. Die Menge verstummte und alle Blicke waren auf das Display gerichtet, doch dieses blieb schwarz. Ich verstaute das Handy in meiner Tasche, damit die Kollegen auf dem Polizeirevier es in Ruhe reparieren können. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Vanessa grinste. Doch ich war mir nicht sicher, ob ich es mir nur eingebildet hatte.

Als die Leiche weggetragen wurde, warf Emilia einen letzten Blick auf Rico. Sie schluchzte heftiger als zuvor. Dann, als ich gehen wollte, holte sie mich gerade noch ein.

»Hallo! Ich bin Emilia, Ricos Schwester«, sagte sie. »Hallo, ich bin Kommissar Roberts. Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich, wie ich immer zu fragen pflege.

»Ich glaube, dass Vanessa meinen Bruder getötet hat!«, flüsterte Emilia mir ins Ohr, damit kein Anderer es hören konnte. »Warum sind Sie sich so sicher?«, wollte ich von ihr wissen. »Weil Rico und Vanessa früher zusammen waren und sich vor Kurzem getrennt haben«, begründete sie. »Okay, das werde ich im Kopf behalten«, versicherte ich Emilia.

In den nächsten Stunden dachte ich über alle Einzelheiten nach. »Vanessa ist die Täterin«, hörte ich immer wieder Emilias Stimme sagen. Als ich Vanessa nach ihrem Alibi fragte, meinte sie, dass sie mit Lisa Bennett zusammen gewesen sei. Und Lisa Bennett war genau einen Tag nach dem Verbrechen krank geworden …

Plötzlich klingelte es an meiner Haustür. Ein Polizist mit einer schwarzen Uniform sagte: »Guten Tag, Kommissar Roberts. Wir haben Ricos Handy repariert und ein Foto gefunden«. Der Polizist überreichte mir ein Foto. Darauf zu sehen waren Rico und Tom in viktorianischen, roten Uniformen. Unten rechts stand das Datum: 17. Mai.

»Das war doch an dem Tag, als die britischen Kronjuwelen gestohlen wurden. Also hatte Tom mich angelogen. Und er hat Rico ermordet, um die Schlüssel zu bekommen«, überlegte ich.

»Was haben Sie gesagt?«, fragte der Polizist. »Tom Christian Herald hat die britischen Kronjuwelen gestohlen und Rico Rose ermordet!«

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Autor: Tommy Truong

Bewertung des Redakteurs:
4

Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.

Albert Einstein