12 · Dezember · Mysterium der Stille · Herbert Fritsche
Die erste Schneenacht lässt Sterne über Sterne, die kleinen, in wundervoller Filigranstruktur erbildeten Schneekristalle, auf unsere Landschaft sinken.
Es geht auf die Jahres-Mitternacht zu, die Erde hat ihren Einweihungsschlaf zu halten, damit sie zur Stunde der Weihnacht das Mysterium der Mysterien erfahren könne: das Licht der »Sonne um Mitternacht«.
Schweift der Blick zum Fenster hinaus, so ist, von den Skeletten der Bäume abgesehen, die gesamte Biosphäre, die den Erdstern überspinnende und selbst seinen Luftraum durchsegelnde Lebendigkeit der Tiere und Pflanzen, nicht mehr wahrnehmbar.
Das Kraut wurde welk, die Blumen verblühten, die Bäume gaben ihr Laub dahin, das Getier verkroch sich oder sank in den Winterschlaf. Die Zeit des Menschen aber kennt kein Schläfrigsein für Wochen und Monate. Der Mensch, labil und wehrlos in die Welt gestellt, ist dadurch bestimmt, dass er, im Prozess fortwährender Selbstverwirklichung, nach außen oder innen oder zu Gott hin unaufhörlich das aktive Wesen zu sein hat.
Mensch sein heißt Mensch werden.
Das ist die eine Sonderstellung des Menschen auf Erden. Die andere ist die, dass nur bei ihm, nirgends sonst in der Vielfalt der Kreaturen, Barmherzigkeit gefunden werden kann. Er allein ist den Zwängen der Physis, des Bios und der emotionalen Psyche von seiner aktiven Anteilnahme an der Wirklichkeit des Logos her so weit entglitten – zumindest der Möglichkeit nach -, dass er die universelle Brüderlichkeit des Geschaffenen erkennen und ihr in Barmherzigkeit dienen kann.
Die Erfahrung lehrt zwar, dass er, infolge eben dieser Freiheit, nur all zu oft das Gegenteil verwirklicht und Grade der Bestialität erreicht, die kein Tier zustande brächte. Denn das Tier tötet nur um seiner Ernährung und Arterhaltung willen, niemals aber ist es machtlüstern oder grausam aus sich selbst heraus.
Der Gefahr, das kostbarste Angebot nicht nur des Dezembers, sondern des gesamten Jahres einzubüßen, entrinnen wir, indem wir die Weihnacht aufs neue als das erkennen, was sie von Alters und von Gott her wirklich ist: Mysterium der Stille.
Außer dem Lichterbaum im Weihnachtszimmer steht der riesige Lichterbaum des Sternenalls vor uns. Er leuchtet uns auch auf dem Pfad zum neuen Jahr. Jedes unserer Jahre ist ein Stück Pensum in der Pflanzschule für eine Welt von Seelen, wie Goethe die Erde nannte. Und da das Menschenleben die Einweihung eines Geistes in die Mysterien des Irdischen bedeutet, ist auch jedes Jahr eine Stufe auf diesem Einweihungsweg.
Dezember · Mysterium der Stille · Herbert Fritsche · Philosophie · Jahreslauf
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Autor: Herbert Fritsche
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Achtsamkeit bedeutet, behutsam sein mit sich selbst und allen Geschöpfen dieser Erde.
Roswitha Bloch