Das Problem von Candelo

Das Problem von Candelo – Curt Emmrich – Italien Piemont Wein

Auf einer Burg in Oberitalien hat sich ein äußerst aufregender Vorfall abgespielt. Es handelt sich um eine Burg, die schon seit zweihundert Jahren keinen Burgherrn mehr hat. Sie gehört, seit den letzten Burgherrn das Zeitliche gesegnet hat, den Bauern der Umgebung, die sie dazu benützen, ihre Weinvorräte in den gewaltigen Kellern und Verliesen sicher aufzubewahren.

Auf dieser Burg brach Feuer aus. Als die Bauern, von den Flammenzeichen geweckt, herbeieilten, ihren Wein zu retten, entdeckten sie zu ihrem Entsetzen, dass als erstes die Holzverschalung des Brunnens ein Raub der Flammen geworden war und die in den Brunnen hineingestürzten Balken es vollkommen unmöglich machten, Wasser heraufzuholen.

Die Burg brannte, und es war nur Wein da, den Brand zu löschen. Löschte man den Brand nicht mit dem Wein, so war der Wein verloren, denn die Mauern würden über den Fässern zusammenstürzen und sie zertrümmern.

Nahm man den Wein zum Löschen, so war er auch verloren. Und doch, das Feuer zu löschen hatte nur einen Sinn, wenn man den Wein damit retten konnte. Die Bauern standen da wie viele Esel Buridans, die, welches Heubündel sie auch fressen würden, auf alle Fälle eine Kolik davon bekommen würden.

Wir haben hier den außerordentlichen Fall, eine allgemein menschliche Situation vor uns zu sehen, für welche es in der ganzen Antike keine Fabel, keine Metapher, kein Beispiel, kein Exempel, keinen Fall gibt. Selbst die Bibel lässt uns da im Stich, dieses Buch, in dem zwei Jahrtausende genug fanden, ihre Weisheit daraus zu schöpfen.

Sollen die Bauern löschen oder nicht? Löschen sie, so ist ihr Wein dahin. Löschen sie nicht, so ist er auch dahin. Selbst die Sophisten in Alexandria haben sich niemals so verteufelte Situationen ausgedacht.

Man könnte vielleicht einen Augenblick der Meinung sein, dass es eine große und erhabene Haltung sei, zuzuschauen, wie das Wüten der Elemente den Wein vernichtet.

Aber Wein ist nicht nur etwas Materielles. Der Wein hat einen eigenen Gott. Der Zorn des Bacchus wäre nicht weniger furchtbar als der Zorn des Poseidon, der den Seefahrer nicht lebend in seine Heimat gelangen lässt. Der Zorn des Bacchus würde vielleicht einen olympischen Durst bedeuten, den ein Odysseus der Kneipe zwanzig Jahre lang nicht stillen könnte. Ein wahrhaft furchtbarer Gedanke!

Tatsächlich, das Problem von Candelo ist das Problem der Leidenschaft. Will der Mensch das Feuer seiner Leidenschaft löschen, so kann er es nur mit seinem Blut tun. Wenn er das Feuer gelöscht hat, ist es dahin. Wenn er es brennen lässt, dann verzehrt es ihn, und er ist auch dahin.

Die Bauern von Candelo haben ihren Wein in das Feuer der Götter gegossen. Es ist des Menschen Pflicht, auf dieser Welt zu verschwenden, was er behalten möchte.

Als die Bauern am Morgen die rauchenden Trümmer durchsuchten, fanden sie in einem Gewölbe, das vom Zusammensturz verschont geblieben war, ein Fass, das niemandem gehörte. Es war unversehrt. Sie öffneten das Fass, und jeder von ihnen nahm sich einen Becher von seinem Wein, der uralt war und schwer und herrlich. Der letzte Burgherr noch hatte ihn gekeltert.

Seien wir keinen Augenblick traurig über das Problem von Candelo. Denken wir daran, dass es in einer menschlichen Welt, die die Verschwendung von uns fordert, unsere Pflicht ist, wie jener Mann zu handeln, der vor 200 Jahren das Fass verschloss, damit die Enkel später davon trinken können.

Möge ein jeder seinen Nachfahren, welche er niemals kennen wird, Gutes erweisen, auf dass er wert sei, aus dem Becher der Ahnen, welche er niemals gekannt hat, zu trinken.

Das Problem von Candelo – Curt Emmrich – Italien Piemont

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Das Problem von Candelo - Curt Emmrich - Italien Piemont Wein - Auf einer Burg in Oberitalien hat sich ein äußerst aufregender Vorfall abgespielt

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Autor: Curt Emmrich

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Der Mensch ist die Krone der Schöpfung: Er kann denken. Er hat Bewusstsein seiner selbst.
René Descartes