Bewegungen

Bewegungen in Körper und Gemüt · Alltagspsychologie · R.M.F

Jeder Gemütsbewegung entspricht eine körperliche Bewegung, eine körperliche Urgeste, das stellten wir vorläufig rein beobachtend fest.

Versuchen wir nunmehr zu verstehen, woher diese Zuordnung von Gemütsbewegung und Körperbewegung kommt, so sehen wir uns wieder auf die Problematik des Verhältnisses zwischen Seele und Leib geführt.

Wieder müssen wir weit verbreiteten Anschauungen entgegen treten. Schon die feste Zuordnung von Affekt und Bewegung beweist, dass es keineswegs im Belieben der Seele steht, welche Bewegungen sie innervieren will, vielmehr deutet alles darauf hin, dass die Ausdrucksbewegungen nicht willkürliche Anhängsel der Triebe sind, sondern deren inneren Lebenstendenzen dienen.

Eine Schwierigkeit ist besonders durch den Begriff »Ausdruck« geschaffen, der so klingt, als wäre zunächst eine Stimmung der Seele da, die sich nachträglich körperlich ausdrückte, und der ferner einen Doppelsinn einschließt, indem »Ausdruck« einerseits zweckfreie Äußerung und zweitens Äußerung zum Zweck einer auch anderen verständlichen Mitteilung heißt.

Dass die Mitteilung nicht der Ursinn der Ausdrucksbewegung sein kann, ist leicht einzusehen.

Erstens werden viele Affektbewegungen (wie die Herz- und Eingeweidebewegungen) überhaupt nicht wahrgenommen und können daher nicht in der Mitteilung ihren Grund haben.

Zweitens werden aber auch die sichtbaren Ausdrucksbewegungen nicht nur dann ausgeführt, wo sie von anderen bemerkt werden und wo dieses Bemerktwerden einen Nutzen hat, sondern auch in Fällen, wo sie schädigen (wenn zum Beispiel der Schrei des Schmerzens sich Feinden verrät).

Wir werden also auf der Suche nach dem biologischen Sinn der Ausdrucksbewegung die »Mitteilung« zunächst ausschalten müssen, da sie offensichtlich sekundär ist; der biologische Sinn der Affektmotorik muss eine andere Quelle haben.

Auf der Suche danach ist man auf die Tatsache gestoßen, die auch in unserer Beschreibung schon allenthalben hervor trat, dass nämlich auch die ohne praktischen Nutzen ausgeführten Gesten, wie das Ballen der Fäuste oder Fletschen der Zähne, unverkennbare Züge von Handlungen tragen, die praktischem Nutzen (hier dem Niederschlagen oder Zerreißen eines Feindes) dienen können, wenn auch dieser praktische Nutzen selten zum Austrag kommt.

Charles Darwin:

Besonders Darwin hat das in reicher Fülle von Beispielen dargelegt und die Ausdrucksgesten auf ursprüngliche Nutzbewegungen zurück zu führen gesucht. Indessen reicht diese Erklärung nicht aus, was auch Darwin selbst wusste, so dass er noch andere, aber wenig ausreichende Erklärungen hinzu zog.

Erstens nämlich erklärt jene Theorie nicht die zahlreichen Bewegungen, die sich nicht auf praktische Nutzhandlungen zurückführen lassen, und zweitens erklärt sie nicht, warum die Gesten ausgeführt werden, wo sie doch keinen praktischen Nutzen haben.

Wir müssen also eine Erklärung für solche Bewegungen finden, die sich nicht auf praktischen Nutzen zurückführen lassen, und müssen ferner erklären, warum die in der Form nutzhaften Gesten auch dort ausgeführt werden, wo sie keinen praktischen Nutzen erbringen; denn dass das ungeheuer komplizierte Ausdrucksleben ein sinnloses Überbleibsel, wie etwa nach verbreiteter Meinung der wurmförmige Fortsatz des Blinddarms, sei, widerspricht durchaus dem sonst in der Natur herrschenden Sparsamkeitsprinzip.

Zunächst also die Frage nach dem biologischen Sinn der innerkörperlichen Affektbewegungen, der Herz- und Atmungsvorgänge (vasomotorische Prozesse) und der Eingeweidebewegungen (intestine Prozesse).

Lange und James:

Den richtigen Weg in dieser Richtung hat ohne Zweifel die etwa gleichzeitig von dem Dänen Lange und dem Amerikaner James aufgestellte — wenn auch noch mannigfach zu modifizierende — Theorie gewiesen, die in diesen Bewegungen nicht eine Folge, sondern die Ursache der Affekte zu sehen lehrt.

Schmerz und Lust, Liebe und Hass gehen danach nicht den inneren Bewegungen voraus, sondern sind die seelischen Begleiterscheinungen dieser Vorgänge. Mannigfache Versuche bestätigen diese Lehre.

Wir können durch künstliche Beeinflussung des Herzens und des Blutumlaufs unsere seelische Stimmung stark beeinflussen, was jeder unbewusst dadurch ausübt, dass er sich durch ein Glas Wein oder das Rauchen einer Zigarette in bessere Laune zu bringen sucht, ein Effekt, der in anderer Weise auch durch körperliche Bewegungen, die das Blut rascher kreisen lassen, zu erzielen ist.

All diese Mittel beeinflussen Herz und Blutkreislauf und damit indirekt auch die Seele. Das würde durchaus mit dem übereinstimmen, was wir oben über die Einheit von Leib und Seele sagten.

Neuerdings hat man interessante Beobachtungen über den Einfluss innerkörperlicher Drüsen auf die Stimmung gemacht, so dass außer den Bewegungen auch durch diese ausgelösten chemischen Vorgänge, Änderungen der Konsistenz des Blutes, in Betracht kommen würden.

Eugen Steinach:

Die Theorien Steinachs über den Einfluss der Pubertätsdrüsen haben es sogar zu einer Art Berühmtheit gebracht. Diese Lehren werden zur Zeit stark ausgebaut. Heute schon können wir sagen, dass wir nicht darum Herzklopfen haben, weil wir ängstlich sind, sondern dass wir ängstlich sind, weil das Herz anders klopft, weil der Blutkreislauf und die Durchblutung aller Gewebe sich ändern, was auch mit chemischen Prozessen verbunden ist.

Das Furchtbewusstsein wäre also ein Begleiterscheinung dieser innerkörperlichen Vorgänge, nicht aber deren Ursache. Das enthebt uns der Frage, wie es denn das Bewusstsein anfängt, das Herz klopfen zu lassen; es enthebt uns auch der Erklärung, warum das Furchtbewusstsein gerade diese körperlichen Bewegungen erzeugt; denn es erzeugt sie gar nicht, es ist eine Folge dieser rein reflektorisch, als ererbte Mechanismen ins Spiel tretenden Bewegungen.

Leider ist die Theorie vom Einfluss der innerkörperlichen Bewegungen auf das Gemüt durch den Umstand verdunkelt worden, dass ihre Entdecker die innerkörperlich und die nach außen wirkenden Bewegungen nicht scharf von einander geschieden haben.

William James:

Besonders der beinahe zum geflügelten Wort gewordene Satz von William James: »Wir weinen nicht, weil wir traurig sind, sondern sind traurig, weil wir weinen« hat der Lehre eine Menge von Gegnern erweckt, weil man das ‘Weinen’ im Sinne der äußeren Tränenabsonderung verstand.

So aufgefasst ist der Satz natürlich widersinnig. Aber James dachte, wenn er von »Weinen« sprach, auch alle jene inneren Herz- und Atmungsvorgänge mit, die der Tränenabsonderung voraus gehen, und zieht man diese hinzu, so fallen viele Einwände der Gegner zum größten Teil dahin.

Wir betonen daher, dass man die innerkörperlichen, affektkonstituierenden Bewegungen von den nach außen strebenden, affektumsetzenden Bewegungen, die allein den Namen »Ausdrucksbewegungen« verdienen, trennt.

Jene innerkörperlichen Bewegungen strahlen als Affekt in die Seele aus; die affektumsetzenden dagegen sind nicht Ursache, sondern Folge der inneren (zugleich körperlichen und seelischen) Erregung, sie sind Abreaktion, Entspannung und Befreiung. Sie entladen gleichsam die seelische Spannung und setzen sie um in Handlung.

Solcher Entspannung dienen sowohl die praktisch nutzlosen oder nutzlos gewordenen Bewegungen des Weinens, Lachens, Zitterns usw., als auch die nützlichen (oder wenigstens die Form von nützlich zeigenden) Bewegungen.

Indem wir den Begriff der »seelischen Entspannung« einführen, haben wir auch die früher gesuchte Erklärung dafür, dass sich im äußerlich-praktischen Sinn nutzlos gewordene Bewegungen dennoch als innerlich nützliche weiter erhalten.

Wir verstehen damit den biologischen Wert der Ausdrucksbewegungen im engeren Sinn dahin, dass sie zunächst der seelischen Entladung dienen. Da diese seelische Entladung nun sowohl in praktisch nutzlosen ebenso wie auch in nützlichen Formen erzielt werden konnte, so stellen sich allmählich die auch praktisch nützlichen Formen, die im Ernstfall geübt werden, auch dort ein, wo sie praktisch wertlos sind.

Das geschieht im Lauf des individuellen Lebens, es werden solche Bewegungstendenzen jedoch auch vererbt und treten dann als Ausdrucksbewegungen auf, ehe das Individuum die Erfahrung ihrer praktischen Nützlichkeit gemacht hat.

So können wir den der Darwinschen Lehre gerade entgegengesetzten Satz aufstellen, dass nicht nur die Ausdrucksbewegungen von ursprünglichen Nutzbewegungen abstammen, sondern dass die praktischen Nutzhandlungen sich vielfach aus zunächst nur spielerisch, als »Ausdruck« geübten Bewegungen entwickeln.

Der Ausdruck ist nicht bloß Überbleibsel von Nutzhandlungen, er ist im Lauf des individuellen Daseins auch Vorübung von Nutzhandlungen; denn das Kind übt sich »spielend«, das heißt rein als »Ausdruck« im Schreien, Greifen, Schlagen, usw.

Erst als durchaus sekundäre Stütze kommt für die Erhaltung der praktisch-nutzlosen Ausdrucksgesten ihre Verständlichkeit für andere, die Mitteilung, in Betracht als ein sozialer, aber durchaus sekundärer Nutzen.

Man kann also sagen: wir führen Droh- oder Kosegesten nicht darum aus, weil sie verstanden werden und der Mitteilungen dienen können, sondern ursprünglich liegt der Fall so, dass wir sie rein reflektorisch ausführen und sich erst auf Grund ihrer Verständlichkeit der Nutzen der Mitteilung einstellt, was dann dazu führt, dass sie auch zweckhaft, das heißt um eines vorbewussten Nutzens willen, ausgeführt werden.

Wir führen in der Regel Ausdrucksgesten nicht aus, weil sie verstanden werden, sondern wir führen sie ohne Zweck rein reflektorisch aus; aber da wir nachträglich die Erfahrung gemacht haben, dass sie verstanden werden, führen wir sie, soweit wir das vermögen, auf Grund vorherigen Zweckbewusstseins aus.

Das ist jedoch ein verhältnismäßig so seltener Fall, dass es ganz unmöglich ist, ein Zweckbewusstsein als biologischen Grund der so unendlich reichen und komplizierten Ausdrucksminik anzusetzen.

Zusammenfassung:

Zusammenfassend also können wir festhalten, dass in mehrfacher Hinsicht verbreitete Meinungen, die auch in der Wissenschaft noch gelten, korrigiert werden müssen.

Zunächst ist jene Lehre, die die Ausdrucksbewegung vom Bewusstsein her, besonders dem Zweckbewusstsein her, erklären will, abzulehnen, denn die Ausdrucksbewegungen als »Urgesten« sind vor dem Bewusstsein. Sie sind als affektkonsituierende Bewegungen die Träger des Affektbewusstseins. Sie geschehen als affektableitende Bewegungen reflektorisch, das heißt ohne Zweckbewusstsein. Sie haben wohl einen Nutzen, aber nicht einen Zweck, das heißt einen vorbewussten Nutzen.

Insofern sie aber alle einen Nutzen — einerlei, ob er vorbewusst oder nicht ist — haben, ist auch die Trennung zwischen reinen Ausdrucksbewegungen und Nutzbewegungen falsch; vielmehr haben nicht nur alle Ausdrucksbewegungen einen Nutzen, vor allem den inneren der seelischen Entspannung, nein, auch die Nutzbewegungen haben ihren Ausdruck, weil die Urgeste, die Triebbewegung, eindeutig gewissen Affekten zugeordnet ist.

Es ist nur ein Grad-, kein Wesensunterschied, wenn die Drohgeste der geballten Faust zum Schlag führt. Der zunächst rein individuelle Nutzen der Urgesten kann sich nun in sozialer Weise dahin erweitern, dass die Geste »verstanden«, also Mitteilungsgeste, wird, was jedoch zunächst auch ohne Vorbewusstsein, das heißt zweckfrei, geschieht.

Allerdings können nachträglich wenigstens diejenigen Bewegungen, die vom Bewusstsein her zu innervieren sind, dem Zweckbewusstsein untergeordnet werden; indessen ist das nur in begrenztem Maß der Fall.

In der Hauptsache bleibt auch hier unsere Grundkenntnis bestehen, dass das Bewusstsein nicht der Herr, sondern der Diener des Lebens ist.

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Das erste und das letzte Werk der Liebe ist die Aufmerksamkeit.

Rochus Spieker