Abschied · Deniz Caliskan · Gastarbeiter
Ich sitze hier auf einer Bank und beobachte den letzten schönen Sonnenuntergang am Marmarameer. Leise schlagen die Wellen gegen das Ufer. Von weit her höre ich Kinderstimmen und ein Radio, das türkische Musik spielt.
Eigentlich liebe ich diese Atmosphäre und sollte überaus glücklich sein. Die Menschen, die Häuser, die kleinen Einkaufsläden, die fast weiß schimmernde Sonne. All diese Dinge sind ein Teil meiner selbst.
Aber morgen werde ich die Dinge, die ich außer meiner Familie am meisten liebe, für ein ganzes Jahr aufgeben müssen. Ich werde meine Welt des Lichts gegen eine fremde Welt der Dämmerung eintauschen müssen.
Ich spüre jetzt schon, wie von Minute zu Minute meine Heimat in Gedanken Stückchen für Stückchen von mir fortrückt. Immer häufiger muss ich an den mir bevorstehenden Abschied denken, bis der Gedanke an ihn in mir so fest verankert ist, dass ich ihn für eine unbestimmte, lange Zeit nicht mehr los werde. Wie eine Krankheit befallen Melancholie und Trauer meinen Geist.
Vor meinem geistigen Auge spielen sich wie ein Alptraum die mir bevorstehenden Morgenstunden ab: Koffer stehen gepackt vor dem Haus, Verwandte und Freunde kommen, um sich zu verabschieden. Die Atmosphäre scheint noch gelöst. Die Menschen lachen noch.
Aber in Wirklichkeit hat es in ihren Herzen schon begonnen zu weinen. Das Lachen ist nur noch ein äußerer Schutz, ein letztes Festklammern an der heilen Welt und ein Hinausschieben des Unangenehmen.
Ein Taxi fährt vor. Die ersten Tränen fangen an zu rollen. Man ist irgendwie gefühllos und hängt in der Schwebe. Man wird zum Schatten seiner selbst. Die Koffer werden im Taxi verstaut. Ein letztes Mal wirft man sich an den Hals der Großmutter, hält sie ganz fest, als hoffe man, sie könnte einen noch festhalten und vor der Welle schützen, die in die Ferne trägt. Die Welle aber ist stärker. Mechanisch setzt man sich zu den anderen ins Taxi und fährt zum Busbahnhof.
Mit kalten Augen, die ins Nichts blicken, sieht man die letzten Bilder seines schönen Traums an sich vorbeifliegen. Man steigt aus, man steigt ein. Ohne es richtig wahrzunehmen, setzt man sich auf seinen Platz im Bus, zieht sich in die Isolation und Stille zurück, um die Trauer ertragen zu können. Im Laufe der drei Tage während der Fahrt nimmt das Leuchten der Sonne ab.
Es wird immer dunkler. Man hört kein Grillen der Heuschrecken und kein Wellenschlagen mehr, sondern nur noch leisen Regen, der unterbrochen wird von lauten Gewitter- und Sturmgeräuschen. Die Musik in der Ferne ist eine andere, das Lächeln der Menschen ist ein anderes, die Häuser und Läden sind anders. Kein Meer, keine Sonne.
Lange, lange Zeit braucht man, damit diese Atmosphäre zur Gewohnheit und der Schmerz, fort zu sein, langsam schwächer wird. Aber er verschwindet nie.
Ich sehe nun, wie das letzte Stückchen Sonne hinter dem Horizont untergeht. Schleichend nähert sich die Dunkelheit. Die türkische Musik wird immer leiser, bis sie nicht mehr zu hören ist. Kinderstimmen verlieren sich in der Ferne. Die Zeit der Trauer, der Einsamkeit und Melancholie beginnt.
Abschied · Deniz Caliskan · Gastarbeiter
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Autor: Ceniz Caliskan
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Meditation bringt uns in Berührung mit dem, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Johann Wolfgang von Goethe