03 · Möwe Jonathan · Richard Bach

03 · Möwe Jonathan · Richard Bach · Novelle

Das also ist das himmlische Paradies, dachte er amüsiert. Seine Empfindungen waren nicht besonders ehrerbietig, wo er doch anscheinend gerade in den Himmel kam.

Während er in enger Flugformation mit den zwei strahlenden Möwen über die Wolken aufstieg, begann auch sein Gefieder so hell zu strahlen wie das ihre.

Immer hatte hinter den goldenen Augen unwandelbar jung die Möwe Jonathan existiert, und sie lebte weiter, nur die äußere Form verwandelte sich. Es schien der vertraute Körper zu sein, doch Jonathan flog besser und leichter als je zuvor. Ich werde mit halber Kraft zweifache Geschwindigkeit erreichen, dachte er, werde die Leistungen meiner besten Erdentage verdoppeln.

Sein Gefieder leuchtete jetzt ganz weiß, und seine Schwingen schimmerten glatt und vollendet wie poliertes Silber. Voller Freude erprobte er sie und ließ seine Kraft in diese neuen Flügel einströmen. Bei vierhundert Stundenkilometern spürte er, dass er sich seiner Höchstgeschwindigkeit im Horizontalflug näherte. Bei vierhundertfünfzig hatte er das äußerste erreicht und war fast etwas enttäuscht.

Auch dieser neue Körper war also in seinen Möglichkeiten eingeschränkt. Er hatte zwar seinen früheren Weltrekord überboten, doch immer noch gab es eine Grenze, die ihn zu großen Anstrengungen herausforderte. Im Himmel, dachte er, im Himmel sollte es keine Beschränkungen mehr geben.

Die Wolkendecke riss auf, seine Begleiter riefen: »Glückliche Landung, Jonathan,« und lösten sich in durchsichtige Luft auf. Er schwebte über einem Meer auf eine zerklüftete Küste zu. Einzelne Möwen kämpften mit den Aufwinden über den Klippen.

Fern im Norden, fast am Rande des Horizonts, kreisten noch ein paar Vögel. Neue Ausblicke, neue Gedanken, neue Fragen. Warum nur so wenig Möwen? Der Himmel müsste voll von Schwärmen sein. Und er war so müde. Im Himmel dürfte es doch keine Müdigkeit geben. Muss man hier auch schlafen? Schlafen? Wo hatte er das Wort gehört?

Die Erinnerung an sein Erdendasein verflüchtigte sich. Gewiss war die Erde ein Platz gewesen, wo er manches gelernt hatte, aber die Einzelheiten verschwammen. Futter suchen oder so ähnlich und … ja … Verbannung.

Die Möwen vor der Küste flogen ihm zur Begrüßung entgegen, doch gaben sie keinen Schrei, keinen Laut ab. Trotzdem fühlte er, dass er willkommen war und daheim. Es war ein großer Tag für ihn, aber an den Sonnenaufgang dieses Tages erinnerte er sich nicht mehr.

Er kreiste tiefer, flatterte nah über dem Boden fast auf der Stelle, dann setzte er leicht auf dem Sand auf. Die anderen Möwen aber landeten schwebend, keine bewegte auch nur eine Feder. Die schimmernden Flügel weit ausgespannt drehten sie in den Wind, dann änderten sie, Gott weiß wie die Stellung der Schwungfedern und kamen im Augenblick zum Stillstand, da sie mit den Füßen den Boden berührten.

Die vollkommene Körperbeherrschung war herrlich. Doch Jonathan war zu müde, es auch so zu versuchen. Da, wo er aufgesetzt hatte, war er im Stehen eingeschlafen. Dann folgte ein Tag dem anderen. Auch hier übte Jonathan unablässig neue Flugtechniken wie in dem Leben, das hinter ihm lag.

Nur eines war anders. Die Möwen hier fühlten wie er. Jede einzelne erstrebte die höchste Vollkommenheit auf dem Gebiet, das allen das wichtigste war: dem Fliegen. Es waren großartige Vögel, alle. Täglich verbrachten sie viele Stunden damit, ihre Flugtechnik zu üben und sich im Kunstflug zu erproben.

Jonathan vergaß alles Frühere. Versunken war die Welt, aus der er gekommen war, vergessen der Schwarm, der die Augen gegen die Herrlichkeit des Fliegens verschlossen hatte und die Flügel einzig als Mittel zum Zweck beim Futtersuchen und Raufen um die Nahrung gebrauchte. Doch ab und an blitzte sekundenlang die Erinnerung auf, und dann kamen die Fragen.

So geschah es an einem Morgen, als sein Lehrer und er nach einer Serie von Loopings mit anliegenden Flügeln auf dem Wasser ausruhten.

»Wo sind sie denn alle, Sullivan?« dachte er. Er war jetzt mit der mühelosen Gedankenübertragung vertraut, die hier das Kreischen und Krächzen der Möwen auf der Erde ersetzte.

»Wieso sind nicht mehr von uns hier? Es gab doch Tausende und Abertausende von Möwen … ich weiß.«

Sullivan schüttelte den Kopf. »Ich kenne nur eine Antwort, Jonathan. Du bist wahrscheinlich einer unter Millionen, die große Ausnahme. Die meisten von uns sind nur ganz allmählich weitergekommen, von einer Welt in die nächste, die dann anders war. Wir vergaßen sofort, woher wir gekommen waren, und es kümmerte uns nicht, wohin wir gingen. Wir lebten nur für den Augenblick. Es ist kaum vorstellbar, durch wie viele Leben wir hindurch mussten, bis wir verstanden, dass Leben mehr ist als Fressen und Kämpfen und eine Vormachtstellung im Schwarm einnehmen.«

»Tausend Leben, zehntausend, und danach vielleicht noch hundert Leben, ehe uns die Erkenntnis aufdämmerte, dass es so etwas gibt wie Vollkommenheit, und dann nochmals hundert Leben, um endlich als Sinn des Lebens die Suche nach der Vollkommenheit zu sehen und zu verkündigen.«

»Diese Regel gilt auch jetzt. Wir erlangen die nächste Welt nach dem, was wir in dieser gelernt haben. Lernen wir nichts hinzu, so wird unsere nächste Welt nicht anders sein als diese, sie bietet die gleichen Beschränkungen, und es gilt, die gleiche bleischwere Last zu überwinden.«

Er breitete die Schwingen aus und wendete den Kopf in den Wind. »Du aber, Jon« sagte er, »hast so viel auf einmal gelernt, dass du nicht durch viele tausend Leben musstest, um hierher zu gelangen.«

Und wieder schwangen sie sich in die Lüfte und setzten ihre Übungen fort. Beim Fliegen in der Formation waren die Drehungen um die eigene Achse besonders schwierig, da die Hälfte der Flugfigur Rückenlage erforderte. Jonathan musste dabei umdenken, musste die Flügel zurückstoßen und die Flügelhaltung genau auf die seines Mentors abstimmen.

Immer wieder sagte Sullivan; »Versuchen wir es noch einmal, versuchen wir es noch einmal.«

Und endlich sagte er: »Gut.« Und sie begannen eine neue Figur zu üben.

Hatten die Möwen keine Nachtflüge, so hockten sie beisammen und meditierten. An einem Abend fasste Jonathan sich ein Herz und näherte sich dem Ältesten, der sich, wie es hieß, bald über diese Welt hinaus erheben würde.

»Chiang..« begann er ein wenig unsicher.

Der Uralte sah ihn gütig an. »Ja, mein Sohn?« Das Alter hatte ihn nicht geschwächt, sondern gestärkt. Er konnte jede andere Möwe im Flug überholen und kannte Techniken, die die anderen erst ganz allmählich erlernten.

»Diese Welt ist gar nicht das himmlische Paradies, nicht wahr, Chiang?«

Im Mondlicht sah er, dass der Älteste ihm freundlich zunickte.

»Du hast wieder etwas dazugelernt, Jonathan« sagte er.

»Und was geschieht nachher? Wohin kommen wir dann? Gibt es gar kein Paradies?«

»Nein, Jonathan, einen solchen Ort gibt es nicht. Das himmlische Paradies ist kein Ort und ist keine Zeit. Paradies, das ist Vollkommenheit.«

Er schwieg einen Augenblick. »Du bist ein sehr rascher Flieger, nicht wahr?«

»Ich… ich liebe die Geschwindigkeit!« sagte Jonathan betroffen, aber doch stolz, dass es dem Ältesten aufgefallen war.

»Du wirst zum ersten Mal den Rand des Paradieses streifen, wenn du die vollkommene Geschwindigkeit erreicht hast. Und das bedeutet nicht, dass du in der Stunde tausend oder hunderttausend Kilometer zurücklegen kannst. Selbst wenn du mit der Geschwindigkeit des Lichtes fliegen würdest, hättest du nicht die Vollkommenheit erreicht. Alle Ziffern sind Begrenzungen, Vollkommenheit aber ist grenzenlos. Vollkommene Geschwindigkeit mein Sohn, das heißt ganz DASEIN.«

Dann war Chiang plötzlich ohne ein weiteres Wort verschwunden und tauchte im gleichen Augenblick weit entfernt an der Küste auf, verschwand sofort wieder und stand neben Jonathan.

»Das macht Spaß«, sagte er.

Jonathan war völlig verblüfft. Er vergaß alle weiteren Fragen nach dem Paradies.

»Wie machst du das? Was empfindet man dabei? Wie weit kannst du dich entfernen?«

»Man kann überall hinkommen, man muss es nur wirklich wollen. Ich überall gewesen und in allen Zeiten, die ich mir vorstellen kann.«

Sinnend blickte der Älteste über das Meer.

»Seltsam. Möwen, die um ihrer begrenzten Wege und Ziele willen die Vollkommenheit des Fliegens verachten, kommen nur langsam vorwärts und nirgendwo an. Die aber um der Vollkommenheit willen des Weges nicht achten, kommen in Sekundenschnelle überall hin. Bedenke immer, Jonathan, das himmlische Paradies findet sich nicht in Raum oder Zeit, denn Raum und Zeit sind bedeutungslos. Das Paradies ist…«

»Kannst du mich lehren, auch so zu fliegen?« Jonathan bebte vor Sehnsucht nach dem Unbekannten.

»Gewiss, wenn du es lernen möchtest!«

»So gern. Wann können wir anfangen?«

»Wenn du willst, sofort.«

»Ich möchte so fliegen lernen«, sagte Jonathan; und seine Augen strahlten vor Eifer. »Sag mir, was ich tun soll.«

Chiang setzte seine Worte bedächtig und sah die jüngere Möwe dabei unentwegt prüfend an. »Um in Gedankenschnelle zu fliegen, ganz gleich an welchen Ort, musst du schon vor Beginn wissen, dass du bereits dort angekommen bist.«

Nach Chiangs Worten musste man also als erstes aufhören, sich selbst als Gefangenen eines irdisch begrenzten Körpers zu empfinden, dessen Flügelspannweite etwa einen Meter betrug und dessen Leistungsfähigkeit sich mit Hilfe graphischer Darstellung berechnen ließ.

Die Voraussetzung für das Gelingen lag in dem Bewusstsein, dass das wahre Sein so vollkommen ist wie eine nicht aufgeschriebene, wie eine abstrakte Zahl und überall zugleich existiert unabhängig von Zeit und Raum.

Vorn Morgengrauen an, noch vor Sonnenaufgang und lange bis nach Mitternacht überließ Jonathan sich mit Leidenschaft seinen Versuchen. Aber alle seine Anstrengungen halfen ihm nicht weiter.

»Vergiss alles Wissen«, sagte ihm Chiang wieder und wieder.

»Du hast es nicht gebraucht, um zu fliegen, du hast einfach fliegen müssen. Und jetzt ist es das gleiche. Versuche es noch einmal…«

Und eines Tages war es soweit. Jonathan ruhte auf dem Strand aus. Mit geschlossenen Augen versenkte er sich ganz in sich, und in jähem Begreifen fühlte er, was Chiang gemeint hatte.

»Natürlich. So ist es. Ich bin. Ich bin eine vollkommene, durch nichts beschränkte Möwe!«

Glück durchströmte ihn wie ein heftiger Schreck.

»Gut« sagte Chiang. Seine Stimme klang triumphierend. Jonathan machte die Augen auf. Er stand ganz allein neben dem Ältesten an einer gänzlich fremd anmutenden Küste … Bäume wuchsen bis an den Saum des Ozeans hinab, und zu Häuptern kreiste ein Zwillingsgestirn gelber Sonnen.

»So hast du es endlich erreicht«, sagte Chiang, »aber du musst noch weiter daran arbeiten, dich selbst zu steuern…«

Jonathan war überwältigt. »Wo sind wir?«

Den Ältesten ließ die fremde Umwelt kühl. Er tat die Frage ziemlich gleichgültig ab.

»Wir sind auf irgendeinem Planeten, wie es scheint. Er hat einen grünen Himmel und eine doppelte Sonne

Jonathan stieß vor Entzücken einen hellen Schrei aus, den ersten Laut, seit er die Erde verlassen hatte.

»Es ist gelungen!«

»Natürlich ist es gelungen, Jon« sagte Chiang. »Es gelingt immer, wenn du genau weißt was du willst. Und nun zu der Selbststeuerung…«

Als sie zurückkamen, war es schon dunkel. Die anderen Möwen betrachteten Jonathan, und in ihren goldenen Augen stand ehrfürchtige Scheu. Sie hatten gesehen, wie er urplötzlich von der Stelle, auf der er lange Zeit wie angewurzelt verharrt hatte, verschwunden war. Er ließ sich aber nicht lange bewundern.

»Ich bin hier noch ein Neuling. Ich fange ja erst an. Ich bin es, der von euch lernen muss.«

»Ich bin aber doch überrascht« sagte Sullivan, der unweit von ihm stand.

»In all den zehntausend Jahren hab ich keine Möwe gesehen, die so furchtlos alles Neue erlernen will wie du.«

Die anderen Möwen nickten dazu. Jonathan trippelte vor Verlegenheit von einem Fuß auf den anderen.

»Wenn du willst, werden wir uns als nächstes mit der Zeit beschäftigen« sagte Chiang.

»Du wirst lernen, durch Vergangenheit und Zukunft zu fliegen. Wenn dir das möglich ist, dann erst kannst du das Allerschwerste, das Großartigste, das Schönste beginnen. Dann erst kannst du dich dazu aufschwingen, das wahre Wesen von Güte und Liebe zu begreifen.«

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Autor: Richard Bach

Bewertung des Redakteurs:
4


Das Paradies ist kein Ort; Es ist ein Bewusstseinszustand.


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