Urfunktionen des Innenbewusstseins

Urfunktionen des Innenbewusstseins · R.M.F · Alltagspsychologie

Im Innenbewusstsein (Streben, Wollen, Fühlen) haben wir das innere Wesen der Seele zu sehen, während das Aussenbewusstsein (Wahrnehmen, Vorstellen und Denken) Brücken sind, die das ICH, jenem Streben, Wollen und Fühlen gehorchend, zur Außenwelt schlägt.

Ist es nun richtig, dass wir im Fürchten und Lieben, im Begehren und Hassen nur dem Leben dienen, oder sind alle jene Gefühle nicht doch vielleicht Selbstzweck, ein ästhetisches Spiel, das sich auf der Bühne unseres Bewusstseins abrollt?

Die Frage stellen, heißt sie entscheiden! Wer kann im Ernst glauben, dass, wenn wir nach Speise oder Schutz, nach Macht oder Liebe streben, wir nur die betreffenden Gefühle im Bewusstsein genießen wollten und nicht höchst realen Lebensforderungen gehorchten?

Nein, wenn wir nach Nahrung streben, so wollen wir unser Leben fristen, und wenn wir Schutz suchen, so wollen wir unser Leben sichern, und wenn wir eine Partnerin (einen Partner) begehren, so gehorchen wir, oft ohne es zu merken, dem Trieb zur Erhaltung der Gattung.

Gewiss, nicht immer sind wir uns dieser tieferen Triebkräfte klar bewusst; zuweilen löst sich das Bewusstsein los von den Kräften, die es regieren; aber der wahre Sinn alles Strebens und Begehrens ist doch, dass es dem Leben in einer oder mehreren der sieben Tendenzen dient, die wir schilderten.

Und so kann uns nicht wundern, dass wir das Leben in seinen sieben Grundtendenzen, die wir aus dem Studium der körperlichen Organe und ihres Verhaltens ablasen, im Bewusstsein wiederfinden in sieben Urtrieben, denen sich alle bewussten Strebungen, Begehrungen und Affekte zuordnen lassen.

Triebe nennen wir die an sich unbewussten Regungen des Lebens, die physiologisch in bestimmten Bewegungsdispositionen gegeben sind, und die, wenn sie ins Bewusstsein hineinragen, als Begehrungen und Affekte sich kundgeben.

Je nachdem der Trieb unbefriedigt oder befriedigt ist, ist das Affektbewusstsein dabei ein anderes; jedem Trieb sind Entbehrungs- und Befriedigungsaffekte zugeordnet, die sich deutlich unterscheiden, jene meist als unlust-, diese als lustvoll charakterisiert.

Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass »Bewusstseinsvorgänge-erleben« gleichbedeutend sei mit »Klarheit-haben« über diese Bewusstseinsvorgänge. Gar manche keusche Person, das in erster Liebessehnsucht erschauert, würde erschrecken, wenn sie wüsste, welche Triebe hinter seinen rosaroten Träumen am Werke sind!

Und doch müssen wir, wenn wir die Seele verstehen wollen, die vitalen Urtriebe aufdecken, die hinter ihren mannigfachen Stimmungen und Gefühlen wirksam sind.

Eine Führung aber in die chaotisch quellende Welt unseres Strebens und Fühlens gewinnen wir, indem wir die Strebungen und Affekte den früher gefundenen sieben Grundrichtungen des Lebens, die ins Bewusstsein als Triebe hineinwirken, zuordnen. Wir kommen so zu folgender Übersicht:

Triebe, die der Betriebserhaltung des Lebens dienen. 

Also einerseits der Ernährung, andererseits der Betätigung der Organe. Ihnen sind zugeordnet als Entbehrungsaffekte: Hunger, Durst, Bewegungsdrang usw., als Befriedigungsaffekte: Sättigung, körperliches Behagen usw.

Triebe, die der Erweiterung und Ausdehnung des Lebens dienen. 

Sie richten sich beim Menschen auf mannigfache Dinge, die oft nur indirekt dem Leben dienen, deren Zusammenhang mit dem Leben jedoch stets zu ermitteln ist. Ihnen entsprechen als Entbehrungsaffekte Jagd- und Erwerbslust, Habsucht und Besitzgier, als Befriedigungsaffekte das Bewusstsein des Besitzes und des Erfolgs.

Triebe, die der Lebenserhöhung dienen. 

Als Lebenserhöhung oder -steigerung fanden wir auf physischem Feld das Wachstum. Dem entspricht auf seelischem Feld nur ungefähr der Trieb nach Macht und Ansehen, also als Entbehrungsaffekt Machtgier und Ehrgeiz, als Befriedigungsaffekt Stolz, Eitelkeit und ähnliches.

Triebe, die der Lebenssicherung dienen. 

Also dem Schutz gegen schädliche Einflüsse von außen. Der typische Sicherungsaffekt ist auf der Entbehrungsseite die Furcht, die oft nur unbestimmt als Schwächegefühl, Unsicherheit und Gedrücktheit ins Bewusstsein tritt, weshalb diese Affekte auch als »depressive« Affekte, das heißt das Bewusstsein eines schwachen, herabgesetzten Lebens angesprochen werden. Ihnen entsprechen als Befriedigungsaffekte die Gefühle der Sicherheit, der inneren Ruhe und ähnliche Stimmungen.

Triebe, die der aggressiven, feindlichen Lebenshaltung dienen. 

Ihnen sind zugeordnet als Entbehrungsaffekte: Zorn, Hass, Wut u. a.; als Befriedigungsaffekte: Siegeslust, Triumph über einen Feind, Grausamkeit u. a.

Triebe, die der freundlichen Gesinnung dienen. 

Ihnen sind zugeordnet die Affekte der Sympathie, des Wohlwollens, der Zusammengehörigkeit, der Freundschaft usw.

Triebe, die der Fortpflanzung des Lebens dienen. 

Ihnen entsprechen als Affekte sexuelle Begehrlichkeit und Anziehung, Wollust und Liebesseligkeit in ihren tausend Formen von niederster Brunst bis zum erhabenen Wonnerausch, wie ihn die Schlussakkorde von Wagners »Tristan« feiern.

Es ist eine lange Liste von Bewusstseinszuständen aufzustellen, die doch nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhalten kann, in der jedoch deutlich hervortritt, dass hinter allen Affekten, Stimmungen und Begehrungen der Seele der Wille zum Leben steht, zum Leben in seinen Hauptfunktionen.

Sie sind in ihrer Verschiedenheit gekennzeichnet, es ist aber hinzufügen, dass sie in Wirklichkeit selten so schroff geschieden sind, sondern dass die einzelnen Triebe sich mannigfach verquicken und verbinden, wie denn zum Beispiel Sympathie und geschlechtliche Anziehung, Besitzbewusstsein und Stolz, Furcht und Hass meist eng verbunden auftreten.

Wir haben in den Trieben und Affekten nicht getrennte »Vermögen« oder »Organe« zu sehen, sondern haben uns das Leben der Seele am besten unter dem Bild eines Parlaments zu denken, in dem verschiedene Fraktionen ihre Interessen durchzusetzen suchen und der jeweilige Gesamtbeschluss immer durch Gruppenbildung und Sieg einer Mehrheit über eine Opposition zustande kommt.

Ja, das »Ich-Leben« mit seinen mannigfachen Strebungen ist nur zu verstehen als Wechselspiel zwischen Antrieb und Hemmungen, und man begreift einen Menschen nur, wenn man außer den antreibenden Motiven seiner Handlung auch die Hemmungen überschaut, die überwunden werden mussten. In jeder Handlungen spricht das »ganze Ich« mit all seinen Trieben mit, das Leben als Einheit in der Mannigfaltigkeit.

Wo wir mutig sind, spricht doch, wenn auch ganz überstimmt, die Vorsicht mit; wo wir lieben, müssen zugleich auch oft antipathische Regungen überwunden werden, kurz, unser Ich handelt stets als Ganzes, auch wenn scheinbar ein einziger Trieb dominiert.

Menschenkennersein im tiefsten Sinn heißt: jede Einzelhandlung aus dieser Einheit des Ich heraus zu verstehen. Und die Situationen des Lebens sind meist so kompliziert, dass nicht eine, sondern meist alle Grundstellungnahmen nötig sind, um unser Verhalten zu verstehen und zu regeln.

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Autor: R.M.F

Bewertung des Redakteurs:
4

Wohlwollen ist eine weit über alle anderen Pflichten hinausgehende Plicht des Menschen, weil sie allen Lebewesen, auch Tieren und Pflanzen, entgegen gebracht werden sollte.

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