Tiger und Menschenverstand

Tiger und Menschenverstand · James Thurber · Methoden · Fabel

Es war einmal ein Tiger, der lebte in den Vereinigten Staaten, und zwar in einem Zoo. Eines Tages lief er davon und kehrte in den Dschungel zurück.

Während seiner Gefangenschaft hatte er viel von den Menschen gelernt, und er nahm sich vor, ihre Methoden in seinem Dschungelleben anzuwenden.

Gleich am ersten Tag begegnete er einem Leoparden und sagte zu ihm: »Ich sehe nicht ein, warum wir auf die Jagd nach Nahrung gehen sollen. Wir werden uns einfach von den anderen Tieren versorgen lassen!«

»Und wie willst du sie dazu bringen?« fragte der Leopard.

»Nichts leichter als das«, erwiderte der Tiger. »Wir werden überall erzählen, dass wir einen Boxkampf veranstalten und dass jedes Tier zuschauen darf, wenn es einen frisch getöteten Eber abliefert. Dann werden wir ein bisschen herumspringen und schattenboxen.«

»Eine ganz ungefährliche Sache also. Später kannst du sagen, du hättest dir während der zweiten Runde die rechte Pfote gebrochen, und ich werde sagen, ich hätte mir während der ersten Runde die linke Pfote gebrochen. Danach werden wir einen Revanche-Kampf ankündigen, und auf diese Weise kriegen wir noch mehr wilde Eber!«

»Na, ich weiß nicht, ob das klappen wird«, meinte der Leopard.

»Ach, natürlich klappt es«, versicherte der Tiger. »Du musst nur herumgehen und jedem erzählen, dass du bestimmt gewinnen wirst, weil ich nichts als ein elender Angeber bin. Und ich werde herumgehen und jedem erzählen, dass ich unmöglich verlieren kann, weil du nichts als ein elender Angeber bist. Dann werden sie alle neugierig auf den Kampf sein!«

Der Leopard erzählte also überall herum, er werde bestimmt gewinnen, weil der Tiger nichts als ein elender Angeber sei. Und der Tiger erzählte überall herum, er könne unmöglich verlieren, da der Leopard nichts als ein elender Angeber sei.

Am Abend des Kampfes waren der Tiger und der Leopard schon sehr hungrig, weil sie die ganze Zeit nicht auf der Jagd gewesen waren. Sie wollten also die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen und dann einige von den frisch getöteten wilden Ebern fressen, die sie von den anderen Tieren erhalten würden.

Als aber die für den Kampf angesetzte Stunde herankam, ließ sich keines der Tiere blicken. »Meiner Meinung nach«, hatte nämlich der Fuchs zu ihnen gesagt, »liegen die Dinge so: Wenn der Leopard bestimmt gewinnt und der Tiger unmöglich verlieren kann, dann endet es mit Unentschieden, und so was ist maßlos langweilig. Besonders, wenn beide Gegner elende Angeber sind.«

Den Tieren leuchtete die Logik dieser Behauptung ein, und so blieben sie alle der Arena fern. Als gegen Mitternacht nun feststand, dass keines der Tiere erscheinen würde und dass auf frisches Eberfleisch nicht zu hoffen war, fielen der Tiger und der Leopard in ihrer Wut übereinander her.

Sie trugen beide so schwere Verletzungen davon und waren beide so schwach vor Hunger, dass ein paar wilde Eber, die zufällig des Weges kamen, sie mühelos überwältigen, töten und fressen konnten.

Moral: Wer wie Menschen lebt, sich mitunter die eigene Grube gräbt.

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Tiger und Menschenverstand - James Thurber - Methoden - Fabel - Es war einmal ein Tiger, der lebte in den Vereinigten Staaten

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Autor: James Thurber

Bewertung des Redakteurs:
4


Je höher gesteigert das Bewusstsein ist, desto deutlicher die Gedanken, desto klarer die Anschauungen, desto inniger die Empfindungen.


Arthur Schopenhauer