Sonne und Sonnenblume · Märchen aus Armenien
Lange bevor in unseren Gärten die goldenen Sonnenblumen zu leuchten begannen, herrschte im Grünen Kaiserreich der Grüne Kaiser, der hatte eine einzige Tochter, schön wie eine Frühlingsblüte. Aber der Kaiser machte sich große Sorgen um sie, denn die Prinzessin wollte nicht heiraten.
Keiner der Prinzen, ob groß oder klein, ob hell- oder dunkelhaarig, gefiel ihr. Auf ihres Vaters Zureden antwortete sie stets: »Mir gefällt nur der Sohn der Sonne.«
Eines Tages geriet der Kaiser darüber in Zorn und rief: »Also geh und nimm den Sohn der Sonne zum Gemahl, mir aber komm nicht mehr unter die Augen!«
Die Prinzessin machte sich auf den Weg. Sie wanderte immer nach Osten, über Berg und Tal, durch Wälder und Wüsten, bis sie zu dem hohen Berg gelangte, auf dem die Sonne ihren Palast hatte.
»Was suchst du hier Mädchen?« fragte dort eine alte Frau und begrüßte sie.
»Ich möchte zum Sohn der Sonne«, erwiderte die Prinzessin und erzählte, warum ihr Vater sie aus dem Haus gejagt hatte. Die Alte fand an dem Mädchen Gefallen.
»Ich bin die Sonne«, sagte sie, »und ich gebe dir meinen Sohn zum Gemahl. Aber wenn du bei ihm bleiben willst, darfst du ihm niemals ins Gesicht schauen.«
Das versprach die Prinzessin, und lange Zeit hielt sie ihr Versprechen. Ein ganzes Jahr lebte sie mit dem Sohn der Sonne glücklich und zufrieden. Aber schließlich wurde sie doch neugierig.
Warum sollte ich dem Sohn der Sonne nicht ins Gesicht sehen dürfen, schließlich ist er mein Gemahl, überlegte sie immer wieder. Der Sonne fiel ihre Nachdenklichkeit auf.
Mitleidig sagte sie: »Ich weiß, was dich quält, und gebe dir einen guten Rat. Stell ein Glas Wasser vor deinen Gemahl und schau dir darin sein Spiegelbild an. Aber eines merke dir: Wenn du zu lange dabei verweilst, wird er es bemerken, und dann ergeht es dir schlecht.«
Die Prinzessin tat, wie die alte Frau ihr geheißen. Als der Sohn der Sonne abends heimkehrte, stellte sie ein Glas Wasser vor ihn hin und schaute hinein.
Im Glas zeigte sich das Gesicht ihres Gemahls, und es war so schön und freundlich, dass ihr schier das Herz stehen blieb. Sie vergaß die Warnung der Sonnenmutter und sah das Spiegelbild so lange an, bis ihr Gemahl es bemerkte.
Zornig rief er: »Wenn du nicht gehorchen kannst, will ich dich nicht hier haben!« Und er vertrieb die Prinzessin aus dem Palast.
Weinend lief sie über Stock und Stein. Aber weit ist sie nicht gekommen. Als sie über ein Feld lief, erbarmte sich die Sonne und verwandelte sie in eine hochragende Pflanze mit einer großen gelben Blüte.
Die große gelbe Blüte drehte sich sogleich der Sonne zu, und das macht sie auch heute noch. Die Menschen nannten sie deshalb Sonnenblume.
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Autor: Märchen aus Armenien
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Franz Schmidberger