Segelschiff · Manfred Hausmann

Segelschiff · Manfred Hausmann · Kapitän an seinen Sohn

Segelschiff · Kapitän an seinen Sohn · Lieber Sohn, wenn Inspektor Nannen dir diesen Brief aushändigt, befindest du dich schon einige Stunden an Bord der »Wega« und hast das erste Unbehagen bereits überstanden.

Ich glaube zu wissen, wie einem unerfahrenen Jungen zumute ist, wenn er auf eine Viermastbark kommt, die eine Woche im Hafen gelegen hat. Ich weiß, dass du zunächst betroffen bist von dem Durcheinander, das an Deck herrscht, von den Aschenhaufen, von den Abfällen aus der Kombüse, von den zerbrochenen Kisten und vom Schmutz.

Ich weiß, dass du dich unter den unausgeschlafenen, mürrischen Männern beklommen genug fühlst. Ich weiß auch, dass dir das Herz bis zum Hals empor schlägt, wenn du zu der ungeheuren Höhe der Masten mit den Rahen und dem Gespinst des laufenden Gutes hinauf blickst und dir vorstellst, dass du demnächst dort oben dich bewegen und betätigen musst.

Lass dir gegen niemanden etwas merken, lieber Sohn, es wird bald anders. Der Schlepper kommt längsseits und führt euch die Weser hinunter der freien See entgegen.

Dann sollst du einmal sehen, wie der Unrat im Handumdrehen verschwindet, wie die mürrischen Männer sich in ordentliche Seeleute verwandeln, wie aus der toten und verworrenen Riggung die lebende, atmende, leuchtende Ordnung der Segel wird, wie sich die »Wega« blank und frei den anlaufenden Wellen entgegen drängt!

Wenn du dann nicht die Zähne zusammenbeißest vor Glück und mit deinem ganzen Leib und mit deiner ganzen Seele spürt, dass jetzt dein Leben überhaupt erst richtig anfängt, dann tust du besser, im nächsten Hafen von Bord zu gehen. Aber, lieber Sohn, du wirst es spüren. Auch das weiß ich.

In jeder der nächsten Wochen wirst du mehr lernen, als du sonst in einem ganzen Jahr gelernt hast. Lerne von allen und von allem, von den Männern, vom Schiff, vom Himmel, vom Wind, von den Gestirnen und von der See!

Lerne mit deinem Kopf und mit deinen Gliedern! Manchmal können deine Glieder mehr als dein Kopf. Sie können gleichsam im Schlaf das Richtige tun, und das kann der Kopf nicht. Weiteres hierüber zu schreiben hat keinen Zweck. Es ist deine Sache. Da musst du selbst zusehen.

Aber über etwas anderes will ich dir noch einige Worte mitteilen, so gut ich es vermag. Wenn ich zu meiner Zeit in ruhigen Nächten auf dem Hüttendeck hin und her ging, habe ich immer viele Gedanken gehabt. Natürlich betrafen sie das Schiff. Mein Schiff und alle Schiffe. Einige von diesen Gedanken sollst du wissen. Ich glaube, auch sie gehören zu einer guten Seemannschaft. Jedenfalls wäre ich dankbar gewesen, wenn in meiner Jugend jemand mit mir über dergleichen gesprochen hätte. Es ist anzunehmen, dass auch mit dir niemand darüber spricht. Deshalb will ich es heute tun.

Lieber Sohn, halte deinem Schiff die Treue! Die See kennt kein Erbarmen, kein Recht und keine Erinnerung, sie kennt auch keine Treue. Aber mit einem Schiff ist es ein anderes Ding. Es nimmt die Hand wahr, die mit ihm umgeht. Du wirst es spüren, wenn du am Ruder stehst. Da ist ein dumpfer, gewaltiger Wille im Schiff, der bezwungen werden muss.

Es fragt sich nur, wie du es machst. Wenn du Gewalt anwendest, antwortet das Schiff mit Gewalt. Wenn du klug ist, fügt es sich. Wenn du treu bist, ist es gleichfalls treu.

Es gibt gute Schiffe, und es gibt schlechte Schiffe. Halte nicht jedes, das dir fürs Erste keine Schwierigkeiten macht, für ein gutes und erst recht nicht jedes, mit dem du nicht ohne weiteres klar kommst, für ein schlechtes. Vielleicht lässt das bequeme dich im Stich, wenn es einmal hart auf hart geht. Und vielleicht hast du das schwierige nur noch nicht tief genug in seinem Wesen erkannt.

Lass nicht nach in deiner Bemühung, das letzte Geheimnis eines Schiffes zu erkunden! Viel tut ein nachdenklicher Verstand, mehr ein waches Gefühl, aber das meiste die Liebe wie überall auf der Welt. Wer sein Schiff nicht liebt, weiß nichts von ihm.

Ein Schiff ist wie eine Frau. Nicht umsonst verleiht der Seemann jedem Schiff, auch wenn es einen männlichen Namen trägt, das weibliche Geschlecht. Ein Schiff will geliebt werden wie eine Frau. Am ehesten ergibt es sich einer weichen Hand, hinter der ein harter Wille steht.

Lieber Sohn, denke nicht gering von der weichen Hand! Eine Trosse, die mit einem Ruck steif kommt, bricht. Lässt du es aber sinnig angehen, so hält sie. Und die Kraft ist beide Male die gleiche. Wenn du nur das Ziel nicht aus dem Auge verlierst, darfst du getrost wieder und wieder nachgeben. Einen Orkan vor Treibanker abreiten, ist besser, als das Schiff unter Wasser segeln.

Und wenn du an Land gehst, vergiss bei den Frauen nicht, was du von den Schiffen gelernt hast. Und wenn du wieder an Bord kommst, erinnere dich zuweilen daran, wie du warst, als du deine Liebste bei dir hattest. Aber glaube nie, du wüsstest nun das Letzte! Schiffe und Frauen kann niemand durchschauen. Darum bedeuten sie ja für einen Mann eine immer sich erneuernde Verlockung.

Nun möchte ich einiges über die Schönheit der Schiffe niederschreiben. Von allen Dingen, die Menschenhände jemals gemacht haben, wollen mir die Schiffe bei weitem als das Schönste vorkommen. Ein Schiff ist aber nicht um seiner Schönheit, sondern ganz und gar um seiner Wahrheit und Zweckmäßigkeit willen erbaut.

Und doch sieht es schön aus. Eine jedes auf seine Art. Eine Jacht hat ihre Schönheit, und eine Kuff hat ihre Schönheit. Das ist das eine.

Wenn du die Schiffe, die dir auf den Weltmeeren und an den Küsten der Erdteile begegnen, mit den richtigen Augen betrachtest, wenn du dich auch einmal in einem Konstruktionsbüro über den Riss einer Brigg beugst und den wunderbaren Gang der Linien empfindest, den der Erbauer errechnet hat, oder wenn du hin und wieder vor den kleinen Läden stehen bleibst und dich an den Stichen der alten Schiffe erfreust, die da ausgelegt sind, so gewinnst du mit den Jahren die Erkenntnis, dass die letzten Entscheidungen beim Entwurf eines Schiffes nicht auf Grund von Berechnungen fallen, sondern aus einem Gefühl heraus, das sich unbewusst von der Schönheit leiten lässt.

Ob die Deckslinie, die den Sprung überwindet, sich früher oder später senkt, ob die Masten so oder so verteilt sind, ob ihr Überfall stärker oder schwächer ist, ob die Segelflächen in diesem oder in einem anderen Verhältnis zueinander stehen, also das Zarteste und Kühnste am Schiff, das, was seine Einzigartigkeit ausmacht, wird nicht von Tabellen und Formeln, sondern von einem unwägbaren Schönheitsempfinden bestimmt. Was anfangs das Zweckmäßigste das Schönste, so stellt sich nun das Schönste auch als das Zweckmäßigste dar. Das ist das andere. Seit ich solches weiß, lebe ich ein gut Teil fröhlicher auf der Welt.

Lieber Sohn, wie wohl muss der Mensch erschaffen sein, dass er in seinem Herzen das Wahre und Zweckmäßige auch für das Schöne hält und dass er sich das Schöne nicht ohne eine ihm innewohnende Wahrheit und Zweckmäßigkeit vorstellen kann! Manchmal denke ich, es rührt daher, weil alle drei unmittelbar aus des Schöpfers Hand kommen: Die Wahrheit, die Schönheit und das Herz des Menschen.

Wenn ich die Riggung des Schiffes ansehe oder die Masten oder den Rumpf oder all die Vorrichtungen, die der Mannschaft die Arbeit erleichtern sollen, dann wird mir zugleich das unablässige Sinnen, das wagende Mühen und das große Leiden der Geschlechter deutlich, die ihr Bestes darangesetzt haben, um das Schiff vollkommen zu machen.

Wie man keinen Gegenstand eigentlich benutzen dürfte, ohne in Dankbarkeit derer zu gedenken, die ihn durch die Jahrhunderte hindurch bis auf den heutigen Tag immer vollkommener gemacht haben, so dürfte man erst recht nicht an Bord eines Segelschiffes leben, ohne sich denen verbunden zu fühlen, die in der Kunst des Segelschiffbaues etwas vollbracht haben, was vorher noch nicht da war.

Lieber Sohn, man wird dann gar bescheiden in seinem Wesen. Denn was waren diese Männer und Frauen, und was sind wir? Und sie haben uns alles geschenkt.

Beim Ruder steht der Kompass. Da soll das Schiff in ein Wellental sinken und schlingernd wieder emporsteigen, da sollen die Verbände unter den stürzenden Brechern ächzen, da sollen die Segel in Fetzen davon wehen und die Spieren von oben kommen, da soll der Tag zur Nacht werden: die Nordmarke der Kompassrose bleibt verlässlich. Das ist eine gewaltige Sache.

Der Seemann wäre verloren, wenn er sich nicht auf den Kompass verlassen könnte. Ich habe nie aufgehört, wie alt ich auch geworden bin, die Kraft des Kompasses mit einer gewissen Scheu in meinem Gemüt zu verehren. Wenn ich denn auch, lieber Sohn, immer die geheimnisvolle Macht geehrt habe, die im Gewoge der Welt barmherzig die gleiche ist, gestern, heute und in Ewigkeit.

Du weißt, was ich meine. Ihr sollst du befohlen sein. Damit will ich schließen.

Dein dich liebender Vater

Segelschiff · Manfred Hausmann · Kapitän an seinen Sohn · Novelle

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Autor: Manfred Hausmann

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Marcus Aurelius