Osman der Gelbe · Osman Engin

Osman der Gelbe · Osman Engin · Satire

Ich habe leichten Schnupfen, meine Familie besteht darauf, dass ich den Arzt aufsuche.

»Allah beschütze dich, man kann ja nie wissen.«

Noch am selben Tag bin ich in der Praxis, und der Arzt bestellt mich für eine Blutuntersuchung am nächsten Morgen. Nachdem der Arzt das Blut hat, darf ich wieder gehen und soll in drei Tagen wiederkommen. Bis dahin haben sie die Ergebnisse.

Nach drei Tagen begrüßt mich der Arzt mit sehr nachdenklichem Gesucht. »Herr Engin, wir wollen nicht lange drumherum reden. Sie sind offensichtlich schwer krank. Sie müssen noch heute ins Krankenhaus.«

Ich bekommen fürchterliche Angst. Welche Sorgen doch ein einfacher Schnupfen bereiten kann.

Ich packe meine Sachen und gehe zum Krankenhaus. Dort übergebe ich an der Pforte den Brief meines Hausarztes. Kaum habe ich mich versehen, sitze ich bereits in einem vergitterten Einzelzimmer und darf mit Besuchern nur über das Telefon sprechen.

Von der Krankenschwester erfahre ich, dass ich eine ganz gefährliche, ansteckende Krankheit haben soll. Allein der Name bringt den Tapfersten schon zum Zittern: Hepatitis Epidemica. Für einfachere Menschen hat diese Krankheit auch einen Namen: Gelbsucht!

Wie dem auch sei, die Krankheit ist auf jeden Fall fürchterlich. Die Ärzte rennen in meinem Zimmer aus und ein und haben nur eins im Sinn: Mein Blut! In meinem Zimmer herrscht ein Ansturm auf mein Blut wie beim Sommerschlussverkauf. Wenn das so weitergeht, kann ich die gewünschten Blutmengen nicht mehr liefern.

Ein naher Verwandter ruft mich am Abend an: »Es wird dich wahrscheinlich nicht interessieren, da du in Kürze vermutlich wieder gesund sein wirst, aber ein Onkel und eine Schwägerin von dir sind genau an dieser Krankheit gestorben.«

Meine Familie weiß mich wirklich zu trösten!

Die Stationsschwester steckt ein Thermometer unter meine Achsel und geht. Offensichtlich habe ich Fieber. Nach einer Viertelstunde kommt die Schwester wieder. Ich schaue sofort auf mein Thermometer.

»Wie hoch ist die Temperatur?«

»93 Grad«, rufe ich stolz. 

Sie nimmt das Thermometer an sich und dreht es herum.

»So hält man das. 36 Grad haben Sie, 36,4.«

»Das ist besser als 93, nicht wahr?«

»Ja, etwas besser ist es schon!«

Mein Zimmer im Krankenhaus ist für Gelbsüchtige reserviert. Hier ist alles gelb. Nicht nur die Wände, die Gardinen und die Blumenvase. Täglich wird man mit Orangensaft und Butterkuchen vollgestopft. Selbst ein Chinese würde hier gelbsüchtig werden. 

Drei Tage später steht ein neuer Arzt vor meinem Bett. 

»Wieso liegen Sie denn hier?«

»Ich mache Urlaub. Ein Hotel ist mir zu teuer«, antworte ich. Aber dann kommen mir doch Bedenken. Ich habe eine große, wichtige Krankheit, und in dieser Situation darf ich keine Witze mehr machen. Ich besinne mich und spreche mit zittriger Stimme: »Tun Sie doch nicht so, als wenn Sie nicht wüssten, welche fürchterliche Krankheit in mir wütet!«

Der Arzt schaut immer wieder auf meine Papiere in seinen Händen. Nach dieser gründlichen Untersuchung meiner Blutwerte auf den Papieren schaut er mich kurz an und sagt: »Ich kann bei Ihnen absolut nichts finden. Nach den Werten, die wir hier haben, sind Sie kerngesund.«

Ich schau tief in seine Augen. »Herr Doktor, Sie brauchen mich nicht zu trösten, ich bin über meine entsetzliche Krankheit genau im Bilde. Ich danke Ihnen aber trotzdem für diese nette Geste!«

»Verdammt noch mal! Sie sind überhaupt nicht krank. Sie haben hier im Krankenhaus überhaupt nichts zu suchen.«

Ich bin über so viel Respektlosigkeit gegenüber meiner Krankheit tief verärgert.

»Ich bleibe hier! Sie kriegen mich hier nicht raus! Ich erkläre dieses Krankenhaus für besetzt«, schreie ich hinter ihm her. 

Kaum ist der Arzt fort, kommen wir doch Zweifel. Vielleicht ist meine Krankheit doch nicht so schlimm, trotz des furchterregenden Namens. Diese Ungewissheit macht mich ganz fertig.

Seit zehn Tagen sitze ich nun in diesem Käfig. Noch ein paar Tage, und ich werde in dieser gelben Hölle wie ein gelber Kanarienvogel zu zwitschern anfangen! Meine Langeweile wird selbst von den Ärzten bemerkt. Um mich aufzuheitern, veranstalten sie ein wirklich amüsantes und spannendes Spiel mit mir. 

Wie bereits erwähnt, wird mir täglich literweise Blut abgezapft. Genau wie bei Graf Dracula zu unmöglichen Uhrzeiten. Denn der Herr Graf treibt es ja nachts, und im Krankenhaus fällt man auch im Morgengrauen über die Opfer her. 

Im Gegensatz zu Herrn Graf Dracula rauben sie mir hier nicht nur literweise mein kostbares Blut, nein, sie untersuchen es auch noch. Und das Schöne dabei ist, dass sie jedesmal unterschiedliche Ergebnisse herauskriegen.

Am Dienstag kommt der neue Arzt wieder rein und sagt: »Sie haben nicht mal Durchfall, was suchen Sie eigentlich hier.«

»Gute Frage. Ich war schon immer dagegen, hier herum zu sitzen.«

Am nächsten Tag steht er mit betrübtem Gesicht vor meinem Bett. »Ich muss Ihnen leider sagen, wie befürchtet, sind wir auf Hepatitis Epidemica gestoßen.«

»Gut«, sage ich. »Dann bohren Sie . . . ich meine natürlich, suchen Sie nicht weiter.«

Einen Tag später ist die Hepatitis wieder entwischt. »Ihre heutigen Werte: Sie sind kerngesund!«

Ich bin stolz auf meine Hepatitis, sie ergibt sich nicht kampflos. Wenn die Schwestern Blut aus meinem Arm zapfen, versteckt sie sich wohl in den Beinen. Die Tage, an denen sie erwischt wird, sind nur der unmöglichen Uhrzeit für das Blutabzapfen zuzuschreiben. So früh am Morgen ist jede Hepatitis noch zu schläfrig und unvorbereitet.

Ich nehme es ihr nicht übel, mir geht es nicht anders. Das Spannende an der Sache ist, zu erraten, ob sie heute erwischt werden würde oder ob sie sich verstecken könnte.

»Hier sind zwei verschiedene Werte eingetragen«, schreit der Arzt die Schwester an. »Welche Zahl ist nun richtig?«

Also heute hat sich meine Hepatitis selbst übertroffen. Gleich zwei verschiedene Werte abzugeben. So ein raffiniertes Biest. Um meine Hepatitis zu bestrafen, holt der Arzt noch zwei weitere Ärzte in mein Krankenzimmer.

»Wir müssen leider noch mal Blut abnehmen.« Sie hoffen, meine Hepatitis jetzt zu erwischen.

»Bitte sehr, wenn Sie noch Blut in meinen Adern auftreiben können!«

Ich kann nicht zusehen, wenn Blut abgenommen wird, weil ich mich vor Spritzen fürchte. Mein Arm sieht wie ein Sieb aus, vermutlich können die Schwestern auch nicht hingucken. Ein Arzt untersucht meinen Rücken, ein anderer schaut mir in den Mund und der dritte kitzelt meine Füße.

»Spüren Sie das Kitzeln?«

»Husten Sie mal.«

»Sagen Sie mal A A A A«.

»Tief Luft holen«.

»Aaaa, öhöhöh, öhö, hah, hah, haaa, es kitzelt!«

Danach darf ich mich wieder hinstellen und soll ein paar Sportübungen vormachen.

»Ich wette, der ist gesünder als wir alle drei zusammen!«

»Ist in Ordnung, die Wette gilt«, mische ich mich in das Fachgespräch ein.

»Um was wetten wir denn?«

Das nächste Mal kommt der Arzt sehr respektvoll in mein Zimmer herein. Ich bin sofort im Bilde. Entweder habe ich mit meinen Geschichten den Literatur-Nobelpreis gewonnen, oder mir wurde soeben der Friedenspreis zugesprochen. Immerhin liege ich schon so viele Tage friedlich in meinem Käfig.

»Herr Engin, wir glauben, dass sie die Mapus Meulengrab haben.«

»Nein«, antworte ich, »so was habe ich nicht!!!«

»Mapus Meulengrab ist eine Krankheit, die ein Holländer gleichen Namens entdeckt hat. Eine sehr seltene Erbkrankheit. Ich muss aber dazu sagen, dass nur sehr intelligente Menschen so was haben.«

Ich weiß schon länger, dass ich ein Genie bin. Endlich habe ich es schwarz auf weiß.

Nachdem durch diese Krankheit meine überragende Intelligenz bewiesen ist, unterhält sich der behandelnde Arzt jetzt täglich mehrere Stunden mit mir. Plötzlich bin ich wichtiger als alle Unterlagen. Offenbar ist der Arzt maßlos beeindruckt von dieser seltenen Krankheit, die nur Intelligenzbestien haben.

All meinen  Bekannten, die mich besuchen, erzähle ich von dieser tollen Mapus Meulengrab. Kein Mensch kennt diese Krankheit, und ich muss jeden darüber aufklären, dass nur Leute wie Einstein und ich so was haben können.

Drei Tage später kommt der Arzt mit einer neuen Nachricht. Er schaut beschäftigt in seine Unterlagen und murmelt: »Sie haben KEINE Mapus Meulengrab.«

Ich erzähle aber keinem Bekannten, dass ich sie nicht habe. Vielleicht habe ich sie ja doch. Auf jeden Fall reden die Ärzte nicht mehr mit mir, sondern unterhalten sich nur noch über meine Papiere.

Wenig später kommt die Oberin in mein Zimmer und packt meine Sachen zusammen.

»Ziehen Sie sich gefälligst an!« brüllt sie. Ich tue es. Vermutlich komme ich jetzt in eine anderes Krankenhaus. Die hier kommen mit meiner raffinierten Hepatitis einfach nicht klar.

»Kommen Sie mit!«

Ich gehe hinter ihr her. Als wir an der Pforte vorbei sind, stellt sie meine Tasche einfach auf die Straße.

»Sie können jetzt gehen!« sagt sie. Aber in ihren Augen lese ich ihre wahre Meinung. Hau ab, du Simulant, du Betrüger!

Diesen Menschen ist offenbar nicht klar, dass sie mich um meinen wichtigsten Besitz bringen würden, meine Hepatitis Epidemica.

Kaum zu Hause angekommen, rufe ich sofort meinen besten Freund an.

»Sei froh, dass es so gekommen ist«, tröstet er mich. »Sie glaubten, du seist krank, deshalb behielten sie dich die ganze Zeit dort. Ich mag nicht daran denken, was sie alles mit dir angestellt hätte, wenn du in den Papieren für tot erklärt worden wärst.«

Obwohl auch ich daran gedacht habe und mich deswegen riesig freue, erwidere ich trotzdem: »Nicht doch. Immer wenn der Arzt kam, bewegte ich mich ganz demonstrativ. Ich habe auch immer alles aufgegessen, was sie mir brachten. Das sind doch alles Anzeichen, die bei einem Toten unmöglich wären!«

»Das sind aber ganz kleine Symptome, die gegen deinen Tod sprechen. Wenn in den Unterlagen das Gegenteil gestanden hätte, wären sie alle gegenstandslos.«

Im Bewusstsein des grenzenlosen Glücks, die Unterlagen auf meiner Seite zu haben, beende ich das Telefongespräch. Gleich danach klingelt wieder das Telefon. Es ist der Stationsarzt aus dem Krankenhaus.

»Ich rufe direkt aus dem Krankenhaus an, wir haben Ihren Hepatitis-Befund wiedergefunden. Sie müssen sofort zurückkommen!«

Ich erbleiche. Mir schaudert vor der gelben Hölle.

»Was? Treibt sich die Hepatitis dort jetzt alleine herum?«

»Ja. Sie müssen unbedingt wieder herkommen. Damit sich Ihre Hepatitis nicht auf andere Menschen überträgt!«

Wenn sie fremdgeht, bin ich erledigt. Nicht, dass ich eifersüchtig bin, aber ich ohne Hepatitis, Hepatitis ohne Osman – – das wäre unmöglich. Meine Hepatitis kann so was nie ertragen, ich genauso wenig. Ich sehe mich als der Prinz im Märchen, der gerufen wird, um seine arme, bildhübsche Braut aus den Klauen einer Räuberbande zu befreien.

»Ich reite sogleich los!«, rufe ich in die Muschel, »mit dem Schwert in der Hand!«

»Was machen Sie?« fragt der Arzt.

»Ich komme.«

»Gut, wir warten.«

Erst dann kommt mir der Gedanke, dass es diesmal durchaus passieren könnte, dass die Unterlagen gegen mich sind. Je bewusster mir dieser Gedanke wird, um so weniger fühle ich mich als tapferer Prinz, der unbedingt seine arme, bildhübsche Geliebte befreien muss.

Dann habe ich auf einmal eine tolle Idee. Ich könnte einfach nur die Unterlagen zurückschicken. Die Ärzte untersuchen sowieso nur die Unterlagen. Die Patienten in den Betten sind nur lästig. Die Unterlagen benötigen auch viel weniger Platz. In einem Zimmer, in dem bisher zwei kranke Menschen liegen, würden mindestens zweitausend Kranke Platz haben. Die Ärzte würden nicht einmal merken, dass ich abwesend bin. Ich schicke umgehend alle Unterlagen ins Krankenhaus.

Zwei Monate später verspüre ich das Bedürfnis, im Krankenhaus anzurufen, um zu fragen, wie es mir geht. Der Arzt sagt: »Dem Herrn Engin geht es einigermaßen gut. Wir hoffen, ihn in etwa sechs Monaten entlassen zu können.«

Ich besuche mich seitdem öfters im Krankenhaus, ehe ich mich nach zwei Jahren endlich abholen kann.

Beim Abschied versichern mir die Ärzte, dass Osman Engin völlig gesund ist. Ich brauche mir um ihn nun keine Sorgen mehr zu machen.

Tatsächlich, die Unterlagen sind nicht mehr so gelb, sie sind viel blasser geworden. Ich zeige meine volle Anerkennung für die Arbeit der Ärzte. Beim Gehen muss ich Osman Engin etwas unter die Arme greifen.

Die Ärzte winken uns hinterher. Wir winken zurück.

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Das erste und das letzte Werk der Liebe ist die Aufmerksamkeit.


Rochus Spieker