34 · Mimik verstehen · Alltagspsychologie

Mimik verstehen · R.M.F · Alltagspsychologie

Mit der Tatsache, dass jede Seele ihre Erlebnisse zu körperlichem Ausdruck bringt, ist indessen keineswegs erwiesen, dass dieser Ausdruck auch von anderen verstanden wird.

Das Gegenteil ist der Fall. Es muss darauf hingewiesen werden, dass bedeutsame seelische Äußerungen vielfach gar nicht beachtet werden. Ja, es kann keinem Zweifel unterliegen, dass der gelehrte Kulturmensch seine Gelehrsamkeit oft um den Preis einer instinktiven Beobachtungsfähigkeit erkauft, also dass im allgemeinen Gelehrte schlechte Menschenkenner sind.

Die besten Beobachter mimischer Kundgebungen sind nicht sehr intellektuelle Köpfe, sondern alle instinkthaft lebenden Wesen, Naturmenschen aller Art.

Ja, sogar Tiere sind oft den gebildeten Menschen sehr überlegen. Dafür gibt die Geschichte der neueren Psychologie ein lustiges Beispiel. Erinnert man sich des »klugen Hans«, jenes Pferdes des Herrn von Osten, das in Berlin gezeigt wurde, weil es das Einmaleins und einige andere Wissenschaften beherrschte?

Man stellte dem Pferd Rechenaufgaben, und durch Klopfen mit dem Vorderhuf gab das Tier das Ergebnis in der Regel richtig an. Verblüfft staunten Gelehrte mehrerer Fakultäten das »denkende« Tier an, das scheinbar aufmerksam die Aufgabe anhörte und dann unmittelbar die Lösung klopfte.

Ein wenig peinlich war nur, dass der Versuch misslang, wenn der Fragesteller hinter einem Vorhang stand. Das führte endlich zur Lösung des Rätsels, Schwindel war nicht dabei, aber rechnen konnte das Tier auch nicht. Der kluge Hans verdiente seinen Namen nicht wegen seiner mathematischen Begabung, in dieser Hinsicht war er ein absolut dummer Hans.

Und doch war er in anderer Hinsicht klüger als die meisten bebrillten Herren, die seine Klugheit, leider an falscher Stelle, bewundert hatten. Denn das Pferd rechnete nicht, wohl aber war es ein glänzender physiognomischer Beobachter, der seinen Interviewern genau vom Gesicht ablas, wann es mit Klopfen aufzuhören hatte!

Das lustigste an der ganzen Geschichte war, dass alle diese Herren, die die Klugheit des Pferdes examinieren wollten, selbst gar nicht gemerkt hatten, dass sie dem Tier selbst die Zeichen gaben, dass es der eigene Geist der Wissenschaftler war, der sich im Geist des Pferdes spiegelte!

Wir Menschen geben unablässig Zeichen von uns, ob wir wollen oder nicht. Und diese Zeichen werden nicht durch den Verstand erfasst, sondern »instinkthaft«, wie man zu sagen pflegt. Eine gewisse Zurückdrängung des Verstandes ist sogar notwendig; ein Sichhingeben, eine Art leichter Hypnose und ähnliche Zustände machen besonders empfänglich für die Aufnahme solcher Zeichen.

Man kennt das »Willing-Game«, ein beliebtes Gesellschaftsspiel, in dem jemand das Zimmer verlassen muss mit der Weisung, später, wieder hereingerufen, das auszuführen, was die anderen hinter seinem Rücken beschlossen und nun ohne Worte durch den »reinen« Willen ihm befehlen.

Diese verabreden etwa, der Hinausgeschickte solle zu einem Tisch gehen und auf dem dort stehenden Leuchter die Kerze entzünden. Alle Beteiligten haben nur die Aufgabe, schweigend aber intensiv an das zu denken, was die hinausgeschickte Person nach ihrer Rückkehr ausführen soll.

Und es gelingt, es gelingt in den meisten Fällen, besonders dann, wenn die Versuchsperson recht wenig reflektiert, sondern sich gleichsam willenlos den Signalen überlässt, mit denen die ganze Gesellschaft sie, ohne es zu merken, überschüttet.

Gedankenübertragung? Nun ja, wenn man sich klar ist, dass die meisten Gedanken ihre Bewegungskomponenten haben. Und dass diese Bewegungen, nicht der Gedanke selbst, sich übertragen!

Es ist also grundsätzlich nicht wunderbarer, als wenn der Gedanke durch die Bewegung des Kehlkopfes und den damit verbundenen Laut, also die Sprache, wirkt. Zu verwundern ist höchstens, dass die meisten Menschen gar nicht wissen, dass sie beständig diese Sprache ohne Worte reden und dass sie sie dennoch verstehen, verstehen ohne ihren »Verstand« dabei zu bemühen. Die Gedankenübertragung ist in Wahrheit Bewegungsübertragung.

Wie geht dieses Verstehen vor sich? Wenn wir sagen instinkthaft, so ist das nur ein Wort, um die negative Tatsache, dass nicht der Verstand dabei beteiligt ist, festzustellen. Positiver wird die Erkenntnis erst, wenn wir wissen, dass wir auf jene Bewegungen stets selbst durch Bewegungen reagieren, die ebenso fein und ebenso leise sind wie jene, auf die reagiert wird.

Der erwachsene Mensch ist, um das festzustellen, kein geeignetes Objekt; aber man beobachte Kinder und man wird staunen, in welchem Grad sich alles seelische Leben in Bewegungen umsetzt und wie sie auf Bewegungen stets durch Nachahmungs- oder Gegenbewegungen reagieren.

Wenn Kinder Bilder betrachten, so führen sie fortwährend Bewegungen aus, sie deuten, reagieren, ahmen nach und verstehen auf Grund dieser Motorik. Und wenn wir bei Erwachsenen ganz intensiv die Bewegungen beobachten, etwa die Bewegungen eines Schauspielers oder Kapellmeisters, so werden wir bei genauer Selbstbeobachtung merken, dass auch wir jene Bewegungen, wenigstens andeutend, mitmachen.

Diese »innere Nachahmung«, wie man das genannt hat, gibt den Schlüssel zum Verständnis unseres Problems; denn wir verstehen fremden Ausdruck nicht, weil wir ihn »d e n k e n« , sondern wir ihn »nachahmen, spielen oder mimen«.

Unser Körper ist nicht nur ein unendlich feines Instrument, in dem sich das eigene Seelenleben in Bewegungen ausdrückt; es ist ein nicht minder feines Instrument, um fremde Ausdrucksbewegungen nachahmend widerzuspiegeln. 

Wie, um einen schon gebrachten Vergleich zu wiederholen, eine Harfe nicht nur selbst Schwingungen und Töne erzeugen kann, sondern auch gleichstimmige Schwingungen und Töne auffängt und mitklingen lässt, so verhält sich auch unser Körper, nur noch in weit aktiverer Weise, indem er nicht nur mitreagiert, sondern auch gegenreagiert.

Und wie die vom Ich selbst verinnerlichten Bewegungen, nach unseren früheren Darlegungen, nicht bloß Folge, sondern selbst »Träger« von seelischen Stimmungen sind, so lösen auch diese »widergespiegelten« Bewegungen Erlebnisse auf der Bewusstseinsebene aus, die wir in den anderen »einfühlen«.

Wie wunderbar fein aber dieses Erfassen fremder Stimmungen ist, das weit hinaus geht über allen Verstand, macht man sich in der Regel nicht klar. 

Man versetze sich im Geist in ein Theater, aus dessen Kulissen eine Person tritt, von der wir gar nichts wissen, und die wir doch nach wenigen Sekunden instinkthaft so genau kennen, dass wir sofort merken, wenn eine Geste »falsch« ist oder ein Wort in unrechtem Ton gesprochen wird!

Nicht der Verstand sagt uns das, sondern die instinkthafte Einfühlung, die wir als körperliche Resonanz zu begreifen haben. Und es geht weit über alles Vermögen des Verstandes hinaus, dass wir aus einer Geste, einem Blick oder einem Lächeln den ganzen Charakter eines Menschen herauslesen!

Mimik verstehen · R.M.F · Alltagspsychologie

34 · Mimik verstehen · Alltagspsychologie · AVENTIN Storys
Unterstütze AVENTIN Storys · Jeder €uro zählt · Herzlichen Dank
alltagspsychologie aventin de 24

Mimik verstehen · Alltagspsychologie · Mit der Tatsache, dass jede Seele ihre Erlebnisse zu körperlichem Ausdruck bringt ...

URL: https://aventin.de/mimik-verstehen-r-m-f-alltagspsychologie/

Autor: R.M.F

Bewertung des Redakteurs:
4


Es gibt überall Blumen für den, der sie sehen will.


Henri Matisse