Mechanischer Doppelgänger · Hermann Kasack · Roboter
»Ein Herr wünscht Sie zu sprechen«, meldete die Sekretärin. Ich las auf der Besuchskarte: Tobias Hull, B.A. … Keine Vorstellung. Auf meinen fragenden Blick: »Ein Herr in den besten Jahren, elegant.«
Anscheinend ein Ausländer. Immer diese Störungen. Irgendein Vertreter. Oder? Was weiß man. … »Ich lasse bitten.«
Herr Tobias Hull tritt mit vorsichtigen Schritten ein. Er setzt Fuß vor Fuß, als fürchtete er, zu stark aufzutreten. Ob er leidend ist? Ich schätze sein Alter auf Mitte vierzig.
Eine große Freundlichkeit strahlt aus seinem glattrasierten, nicht unsympathischen Gesicht. Sehr korrekt angezogen, beinahe zu exakt in seinen verbindlichen Bewegungen, scheint mir. Nun, man wird sehen. Mit der Hand zum Sessel weisend: »Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches?«
»Oh! Ich wollte mich Ihnen nur vorstellen.«
»Sehr angenehm«, sagte ich.
»Oh! Sie verstehen.« Dieses mit einem leicht jaulenden Ton vorgebrachte Oh! ist unnachahmlich. Seine müde, etwas monotone Stimme hat einen kleinen fremden Akzent. Er sieht mich mit freundlicher Erwartung an.
Über das Benehmen meines Besuchs doch ein wenig erstaunt, wiederhole ich: »Sehr angenehm. Aber darf ich Sie fragen … «. Da werde ich sogleich mit seinem »Oh!« unterbrochen. »Bitte fragen Sie mich nicht.« Und dann beginnt er seine Geschichte zu erzählen, die er anscheinend schon hundertmal vorgebracht hat. »Ich bin nämlich ausgestopft!«
»Aber … erlauben Sie mal!«
Das eigentümliche Wesen, das mich überlegen fixiert, beachtet den Einwurf nicht, sondern fährt unbeirrt fort: »Erschrecken Sie nicht, weil ich eine Art Automat bin, eine Maschine in Menschenform, ein Ersatz sozusagen. Mr. Tobias Hull existiert wirklich. Der Chef einer großen Fabrik zur Herstellung von mechanischen Doppelgängern. Ich bin, wie sagt man, seine Projektion, ja, Agent in Propaganda.«
»Ich kann Ihnen natürlich meinen Mechanismus im einzelnen nicht erklären … Sie verstehen: Fabrikationsgeheimnis! Aber wenn Sie daran denken, dass die meisten Menschen heutzutage ganz schablonenmäßig leben, handeln und denken, dann werden Sie sofort begreifen, worauf sich unsere Theorie gründet!«
»Herz und Verstand werden bei uns ausgeschaltet. Sie sind es ja, die im Leben so oft die störenden Komplikationen hervorrufen. Bei uns ersetzt die Routine alles. Sehr einleuchtend, nicht wahr?«
Ich nickte verstört.
»Oh! Mein Inneres ist ein System elektrischer Ströme, automatischer Hebel, großartig! Eine Antennenkonstruktion, die auf die feinsten Schwingungen reagiert. Sie lässt mich alle Funktionen eines menschlichen Wesens verrichten, ja, in gewisser Weise noch darüber hinaus. Sie sehen selbst, wie gut ich funktioniere.«
Zweifelnd, misstrauisch betrachte ich das seltsame Geschöpf. »Unmöglich!« sage ich. »Ein Taschenspielertrick. Sehr apart. Indessen … «
»Oh! Ich kann mich in sieben Sprachen verständigen. Wenn ich zum Beispiel den oberen Knopf meiner Weste drehe, so spreche ich fließend englisch, und wenn ich den nächsten Knopf berühre, so spreche ich fließend französisch, und wenn ich … «
»Das ist wirklich erstaunlich!«
»Oh! In gewisser Weise; vor allem aber angenehm. Wünschen Sie ein Gespräch über das Wetter, über Film, über Sport? Über Politik oder abstrakte Malerei? Fast alle Themen und Vokabeln des modernen Menschen sind in mir vorrätig. Auch eine Spule von Gemeinplätzen lässt sich abrollen.«
»Alles sinnreich, komfortabel und praktisch. Wie angenehm wird es für Sie sein, wenn Sie sich erst einen mechanischen Doppelgänger von sich halten … oder besser, wenn Sie gleich zwei Exemplare von sich zur Verfügung haben.«
»Sie könnten gleichzeitig verschiedene Dienstreisen unternehmen, an mehreren Tagungen teilnehmen, überall gesehen werden und selber obendrein ruhig zu Hause sitzen. Sie haben einen Stellvertreter Ihres Ich, der Ihre Geschäfte wahrscheinlich besser erledigt als Sie selbst.«
»Sie werden das Doppelte verdienen und können Ihre eigene Person vor vielen Überflüssigkeiten des Lebens bewahren. Ihr Wesen ist vervielfältigt. Sie können sogar sterben, ohne dass die Welt etwas davon merkt. Denn wir Automaten beziehen unsere Existenz aus jeder Begegnung mit wirklichen Menschen.«
»Aber dann werden ja die Menschen allmählich ganz überflüssig.«
»Nein. Aus eben diesem Grunde nicht. Zwei Menschenautomaten können mit sich selber nur wenig anfangen. Haben Sie also einen Auftrag für mich?«
Mit jähem Ruck sprang das Wesen auf und sauste im Zimmer hin und her.
»Oh! Wir können auch die Geschwindigkeit regulieren. Berühmte Rennfahrer und Wettläufer halten sich schon lange Doppelgänger-Automaten, die ihre Rekorde ständig steigern.«
»Fantastisch! Man weiß bald nicht mehr, ob man einen Menschen oder einen Automaten vor sich hat.«
»Oh!« zischte es an mein Ohr, »das letzte Geheimnis der Natur werden wir nie ergründen. Darf ich also ein Duplikat von Ihnen herstellen lassen? Sie sind nicht besonders kompliziert zusammengesetzt, das ist günstig. Das hineingesteckte Kapital wird sich bestimmt rentieren. Morgen wird ein Herr kommen und Maß nehmen.«
»Die Probe Ihrer Existenz war in der Tat verblüffend, jedoch …« Mir fehlten die Worte und ich tat so, als ob ich überlegte.
»Jedoch, sagen Sie nur noch: Der Herr, der morgen kommen soll, ist das nun ein Automat oder ein richtiger Mensch?«
»Ich nehme an doch ein richtiger Mensch. Aber es bliebe sich gleich. Guten Tag.«
Mr. Tobias Hull war fort. Von Einbildung kann keine Rede sein, die Sekretärin ist mein Zeuge. Aber es muss diesem Gentlemangeschöpf unmittelbar nach seinem Besuch bei mir etwas zugestoßen sein, denn weder am nächsten noch an einem späteren Tag kam jemand, um für meinen Doppelgänger Maß zu nehmen.
Doch hoffe ich, wenigstens durch diese Zeilen die Aufmerksamkeit der Tobias-Hull-Gesellschaft wieder auf meine Person zu lenken.
Eines weiß ich seit jener Unterhaltung aber gewiss: Ich bin inzwischen vielen Menschen begegnet, im Theater und im Kino, bei Versammlungen und auf Gesellschaften, im Klub und beim Stammtisch, die bestimmt nicht sie selber waren, sondern bereits ihre mechanischen Doppelgänger!
Mechanischer Doppelgänger · Hermann Kasack · Roboter · Story
Gelassenheit ist eine anmutige Form des Selbstbewusstseins.
Marie von Ebner-Eschenbach