Kalif Hakam und die Witwe · Johann Gottfried Herder · Allegorie
Der Kalif Hakam, der die Pracht liebte, wollte die Gärten seines Palastes verschönern und erweitern. Er kaufte daher alle benachbarten Ländereien auf und bezahlte den Eigentümern so viel Geld, wie sie verlangten.
Nur eine arme Witwe fand sich, die das Erbteil ihrer Väter aus frommer Gewissenhaftigkeit nicht veräußern wollte und alle Anerbietungen, die man ihr deswegen machte, ausschlug.
Den Aufseher der königlichen Gebäude verdross der Eigensinn dieser Frau; er nahm ihr daher das kleine Land mit Gewalt weg, und die arme Witwe kam weinend zum Richter. Ibn Bächir war eben zum Kadi (Richter) der Stadt gewählt worden. Er ließ sich den Fall vortragen und fand ihn schlimm; denn obschon die Gesetze der Witwe ausdrücklich Recht gaben, so war es doch nicht leicht, einen Fürsten, der gewohnt war, seinen Willen für die vollkommene Gerechtigkeit zu halten, zur freiwilligen Erfüllung des Gesetzes zu bewegen.
Was tat also der gerechte Kadi? Er sattelte seinen Esel, hing ihm einen großen Sack über den Hals und ritt unverzüglich nach den Gärten des Palastes, wo der Kalif sich eben in dem schönen Pavillon befand, den er auf dem Erbteil der Witwe erbaut hatte.
Die Ankunft des Kadi mit seinem Esel und Sack setzte den Kalif in Verwunderung, und noch mehr erstaunte er, als Ibn Bächir sich ihm zu Füßen warf und also sagte: »Erlaube mir, dass ich diesen Sack mit Erde von diesem Boden fülle.» Hakam gab ihm die Zustimmung. Als dann der Sack voll war, bat Ibn Bächir den Kalifen, ihm den Sack auf den Esel heben zu helfen.
Hakam fand dieses Verlangen noch sonderbarer, als das vorige. Um aber zu sehen, was der Mann vorhabe, so griff er mit an. Allein der Sack war nicht zu bewegen, und der Kalif sprach: »Die Bürde (Last mit hohem Gewicht; moralische Last) ist zu schwer, Kadi, sie ist viel zu schwer!«
»Herr, antwortete Ibn Bächir mit einer edlen Dreistigkeit, du findest diese Bürde zu schwer? Und sie enthält nur einen kleinen Teil der Erde, die du ungerechter Weise einer armen Witwe genommen hast. Wie willst du denn das geraubte Land tragen können, wann es der Richter der Welt am letzten Gerichtstag auf deine Schultern legt?«
Der Kalif war sehr betroffen; er lobte die Herzhaftigkeit und Klugheit des Kadi und gab der Witwe das Land mit allen Gebäuden, die er darauf hat anlegen lassen, wieder zurück.

