Emanzipation des Bewusstseins ยท R.M.F ยท Alltagspsychologie
Vielleicht wendet man an dieser Stelle ein, dass die bisher gegebene Schilderung des seelischen Lebens hรถchstens fรผr Tiere und das Animalische im Menschen gelte, dass sich jedoch der Mensch eben dadurch vom Tier unterscheide, dass er einen vom Triebleben gelรถsten Verstand besitzen wรผrde, der nicht bloร im Dienst der Triebe handle, sondern aus sich heraus Zwecke setzen, die Auรenwelt rein objektiv bestimmen kรถnne, und dessen Freuden und Leiden nicht wie gewรถhnliche Lust und Unlust vom Triebleben her bestimmt wรคren.
Wir bestreiten die Tatsache, dass sich in bestimmten Entwicklungen das Bewusstsein von seinem Lebensuntergrund emanzipiert, nicht im geringsten, obwohl wir auch diese Emanzipation aus dem Wesen des Lebens verstehen.
Die Daseinsbedingungen des Menschen, besonders diejenigen, die er sich im Fortschritt der Kultur selber schaffen, sind so kompliziert, dass er ihrer nicht mehr aus Grund angeborener Instinkte Herr zu werden vermag, und dass deshalb Erweiterungen und Umbildungen des primitiven Seelenlebens nรถtig werden, die sich in der Tat als etwas vรถllig Neues darstellen, und bei denen der einfache Vitalsinn alle Bewusstseinsvorgรคnge, die wir bisher aufzeigten, nicht mehr so klar durchleuchtet.
Das tritt vor allem im Zweckdenken hervor, also in jenen Akten, die wir als ยปvernรผnftigยซ im besonderen Sinn bezeichnen, wo das Bewusstsein nicht mehr eine Fackel zu sein scheint, die unsere Handlungen Schritt fรผr Schritt erleuchtet, sondern ein Leuchtturm, der von weither die Richtung angibt, ja, der eigentlich die Bewegung wie eine magnetische Kraft zu erregen und zu erhalten scheint.
An Stelle der ยปvis a tergoยซ, von der wir bisher sprachen, tritt gleichsam ein ยปvis a fronteยซ, die unsere Handlungen anderen als den bisher besprochenen rein vitalen Prinzipien unterzuordnen scheint.
Wir stehen damit also vor der schweren Frage, die wir im Anfang unserer Untersuchungen aufwarfen; wie das zweckbewusste Handeln des Menschen mit dem zweckfrei, wenn auch mit bestimmter Richtung sich entfaltenden Leben zu vereinen sei.
Diese Frage wird uns in ihrer ganzen Schwere und Bedeutung erst dann aufgehen, wenn wir nicht nur das individuelle, sondern auch das soziale Leben betrachten, in dem die das menschliche Handeln bestimmenden Zwecke sich sogar in objektiven Gebilden organisieren und sich in der Tat herrisch dem Leben รผberordnen.
Indessen mรผssen wir schon hier, bei der Psychologie des individuellen Menschen, die seelische Mรถglichkeit erรถrtern, wie solche Loslรถsung des Zweckdenkens vom Lebensuntergrund geschehen kann.
Diese Verselbstรคndigung des Geistes von den vitalen Trieben geht sehr allmรคhlich vor sich und fรคllt zunรคchst gar nicht aus dem Rahmen des Lebens heraus. Der Vitalsinn ist nur verhรผllt, nicht aufgehoben, und erst auf sehr spรคten Stufen der Entwicklung, die dann freilich nicht Evolution, sondern Degeneration ist, wird der Geist vom Leben gelรถst, wurzellos, ja lebensfeindlich.
Aus drei Komponenten setzt sich das, was ich die ยปEmanzipation des Geistes vom Lebenยซ nenne, psychologisch zusammen, drei Komponenten, die die Komplizierung, die Objektivierung und die Lustverschiebung heiรen sollen, wobei nochmals betont sei, dass jeder dieser Faktoren zunรคchst durchaus vital begrรผndet ist und erst in der allmรคhlich einsetzenden รbertreibung lebensfeindlich wird.
Unter Komplizierung des Lebens verstehe ich den Tatbestand, dass sich unsere Triebe auf Ziele zu richten vermรถgen, die nicht durch direkte Handlung, sondern erst durch Zwischenhandlungen zu erreichen sind, wobei dann diese Zwischenhandlungen den Charakter des ยปMittelsยซ, das Endziel den Charakter des ยปZweckesยซ, dem jene Mittel untergeordnet sind, erhalten.
Diese Komplizierung durch Einfรผgen von Zwischenhandlungen unterscheidet das Denken des Mensch von dem fast aller Tiere. Auch ein Tier mag von einer unerreichbar hoch hรคngenden Frucht zum Begehren gereizt werden; abgesehen jedoch vom Menschenaffen โ bei dem man neuerlich derartiges beobachtet hat โ kommt kein Tier mitunter auf die Idee, sich etwa einer Stange oder eines anderen Mittels zu bedienen, um die Frucht herab zu langen.
Der Mensch jedoch fรผhrt solche Zwischenhandlungen des รถfteren aus. Er geht aber auch noch weiter: er macht diese Zwischenhandlungen selbstรคndig, indem er, ohne unmittelbaren Zweck, Stangen, Leitern und andere Mittel prรคpariert, die jenem Zweck dienen kรถnnen.
Soweit bleibt, als auch das komplizierte Denken noch im Dienst des Lebens, und auch bei sehr komplizierten Denkvorgรคngen und Prozessen ist doch, wenn auch verhรผllt, stets noch ein Vitalsinn aufzudecken.
Eine wirkliche Loslรถsung des Zweckdenkens vom Leben tritt erst dort ein, wo der vitale Gesamtsinn aus dem Auge verloren wird, wo das Mittel selbst Zweck wird, wie das bei steigender Kultur in immer hรถherem Grad der Fall ist, indem sich das Streben nur noch auf die Mittel richtet, deren vitale Bedeutung aber nicht mehr beachtet.
In diesem Fall also reiรt sich das Denken vom Lebensuntergrund los, und wenn seine Produkte nicht wertlos scheinen, so geschieht es nur darum, weil sie sich in Wertsysteme eingliedern, die รผberindividuellen Interessen dienen, ja, denen man zuletzt einen ยปWert an sichยซ zuschreibt.
Als typisch fรผr einen solchen Komplikationsvorgang mag das Streben nach dem Geld dienen; denn dies, ursprรผnglich nur Mittel zu erhรถhtem und erweitertem Leben, wird zu einem ยปZweck an sichยซ, der den Zusammenhang mit dem Vitalsinn der ursprรผnglichen Strebungen ganz verliert.
Man jagt in extremen Fรคllen dem Geld nicht mehr nach, um es in lebenswichtige Gรผter umzusetzen, sondern um es aufzuhรคufen oder Symbole fรผr dessen Besitz in die Geschรคftsbรผcher einzutragen.
Damit hat sich der Geist vom Leben emanzipiert, zum Mindesten steht er nur noch in so entfernter Beziehung zum Leben, dass diese Beziehung bedeutungslos geworden ist. Welche Gefahren freilich damit fรผr das Leben erwachsen, wird spรคter zu erรถrtern sein.