Die Königskobra · Fabel aus Indien · Respekt
Sie war berüchtigt, die große und mächtige Königskobra, die sich vor langer Zeit in der Nähe eines Dorfes niedergelassen hatte.
Mit ihrer enormen Größe und ihrer ungewöhnlichen Aggressivität jagte sie Jung und Alt Angst und Schrecken ein. Wann immer die Dorfbewohner sie zu Gesicht bekamen, ergriffen sie sofort die Flucht.
An einem sonnigen Morgen hatte sie sich einen Platz auf einer Steinmauer in der Nähe des Weges zu den Feldern ausgesucht, und die Männer und Frauen, die auf dem Weg waren, machten einen großen Bogen um sie. Gegen Mittag sah man schon von weitem einen Mönch auf die Häuser zukommen, und es konnte nicht mehr lange dauern, bis er die gefährliche Stelle passierte.
Die Bauern, die ihrer Arbeit nachgingen, sahen schon das Unheil auf den Pilger zukommen und versuchten, ihn zu warnen. Doch der Fremde ließ sich nicht beeindrucken und ging unbeirrt weiter.
Als er auf die Höhe der Kobra kam, schnellte diese plötzlich in die Höhe, reckte drohend den Kopf und zischte den Vorübergehenden wütend an.
Doch der Mönch ließ sich davon nicht beeindrucken und fürchtete sich nicht. Im Gegenteil, er schaute die Schlange freundlich und liebevoll an, als wäre sie eine gute alte Bekannte von ihm.
So etwas hatte die Kobra noch nie erlebt, und sie bemerkte erstaunt, dass ihr dieser Blick des Mönchs unglaublich gut tat. Im Nu war ihr Zorn verflogen und die Feindseligkeit, die sie eben noch empfunden hatte, spurlos verschwunden.
Nun sprach der Pilger zu ihr, denn er kannte die Sprache der Tiere. »Sieh selbst, jetzt bist du heiter und froh, weil du dein Wüten und Rasen eingestellt hast und keine Gedanken des Zornes mehr hegst. Wenn du in deiner Wildheit anderen immer Furcht und Schrecken einjagst, tust du dir selbst nichts Gutes. Wenn du aber keine bösen Gedanken mehr hättest, würdest du auch nichts Böses mehr denken und niemandem mehr Böses antun. Und dann wärst du glücklich!«
Die sanften Worte des Mannes in der Mönchstracht machten die Königskobra sehr nachdenklich. Ihr bisheriges Leben war immer voller Wut und Aggression gewesen, sie lebte in ständiger Anspannung und Unruhe. Aber jetzt war alles anders, sie war ruhig und gelassen. Ja, sie wollte sich ändern. Die Schlange dankte dem Pilger und versprach ihm, von nun an allen Wesen nur noch Wohlwollen und Liebe entgegenzubringen.
Natürlich bemerkten die Dorfbewohner sehr bald, dass das gefürchtete Reptil sich nicht mehr wild und bedrohlich verhielt. Wenn sie in ihre Nähe kamen, sonnte sie sich still auf den Steinen oder schlich friedlich durch das Gras. Deshalb hielten sie die Kobra von nun an für schwach oder krank und hatten überhaupt keine Angst mehr vor ihr.
Plötzlich sahen sie aber auch die Möglichkeit, sich an dem Reptil für die erlittenen Qualen zu rächen. Die Mutigsten begannen, die Schlange mit einem Stock zu ärgern und sie bei ihrem Sonnenbad zu stören. Bald taten es ihm die anderen gleich, einige packten sie am Schwanz und ließen sie in der Luft kreisen. Andere traten nach ihr, bewarfen sie mit Ästen und Steinen oder schlugen sie.
Die Angriffe und Hänseleien nahmen kein Ende. Das so gequälte Tier blutete bereits und hatte sich sicher schon einige Rippen gebrochen. Eines Tages war sie so krank, dass sie sich kaum noch bewegen konnte.
Kein Wunder, dass die Schlange immer unsicher wurde, ob ihr neues Verhalten überhaupt richtig war und ob sie nicht besser zu ihrer alten Art zurückkehren und drohend ihre gespaltene Zunge zeigen oder gar zubeißen sollte.
Wie freute sich da die Königskobra, als sie nach einiger Zeit den weisen Mönch wieder leise des Weges kommen sah. Er war die Rettung, er wusste bestimmt Rat. Und tatsächlich kam der Pilger wieder, um nach der Königskobra zu sehen. Aber wie erstaunt war er, als er die einst so prächtige Schlange völlig kraftlos, abgemagert und mit vielen Wunden vorfand.
»Wie geht es dir?« fragte er besorgt. »Warum siehst du so elend aus? Was ist dir zugestoßen oder passiert, dass es dir so schlecht geht?«
»Ja, wie du siehst, bin ich etwas dünner geworden, weil ich keine Mäuse und Frösche mehr fange, um sie zu fressen. Wenn ich kein totes Tier finde, ernähre ich mich von Pflanzen und Früchten.«
»Aber du bist mit Narben übersät und machst einen ziemlich verstörten Eindruck. Da muss doch noch etwas anderes dahinterstecken.«
»Nun, wenn du mich so fragst, will ich es dir erzählen. Als die Dorfbewohner sahen, dass ich nicht mehr mit den Augen blitzte und nicht mehr nach ihnen schnappte, wurden sie übermütig und trieben Schabernack mit mir. Am Ende quälten mich sogar die kleinen Kinder aus Spaß. Darum fürchte ich, dass deine Ratschläge von damals nicht ganz richtig waren und sich im Leben nicht verwirklichen lassen.«
»Nein, so ist es nicht. Sicher, ich habe dir geraten, niemanden zu verletzen oder gar zu töten. Du sollst keinem Wesen absichtlich Schaden zufügen oder es belästigen. Aber es war nicht die Rede davon, dass du nicht zischen sollst, wenn dir jemand zu nahe tritt oder böse ist. Es hätte auch niemandem geschadet, wenn du dich in deiner ganzen Größe gezeigt und deutlich gemacht hättest, dass du wie alle anderen unbehelligt bleiben wolltest!«.
Die Zeit verging und bald darauf hatte die Kobra ihre Mutlosigkeit überwunden und bewegte sich wieder frei und unbekümmert auf den Feldern und Weiden. Wollte ihr aber jemand wieder einen Streich spielen, so erhob sie sich mächtig, züngelte und zischte aus Leibeskräften und flößte dem Betreffenden gehörigen Respekt ein.
Und nach kurzer Zeit verstanden sich alle wieder gut, Königskobra, Bauern und Pilger.