Der Khan und der Schneider · 1001 Nacht · Orient Märchen
Es lebte einst im Orient ein Khan, und er galt beim Volk als kluger, aber etwas wunderlicher Mann.
Eines Tages befahl er alle Schneider zu sich, die in der Stadt lebten, und sprach zu ihnen: »Jeder von euch soll mir morgen ein neues Gewand nähen.«
Nachts verließ der Khan seinen Palast, um zu hören, was die Schneider über ihn redeten. Als er unter dem Fenster eines Schneiders stehen blieb, vernahm er, wie der Mann seinen Sohn bat: »Hilf mir beim Nähen! Ich bin so müde.«
Der Sohn des Schneiders aber entgegnete: »Störe mich nicht, Vater! Bitte, lass mich schlafen! Ich habe gerade so schön geträumt.«
Tags drauf, als alle dem Khan die neuen Kleider brachten, entließ er die Schneider und hielt nur jenen Jüngling zurück. Mit ihm allein geblieben, fragte er: »Was hast du denn in der letzten Nacht geträumt?« Der Sohn des Schneiders weigerte sich, seinen Traum zu erzählen. Da ließ ihn der Khan in ein tiefes dunkles Kellergewölbe werfen.
Lange schmachtete der Unglückliche in seinem Kerker. Schließlich begann er einen langen unterirdischen Gang zu graben und gelangte zu einem Zimmer. Auf Zehenspitzen betrat der Jüngling den Raum und erblickte eine wunderschöne schlafende Jungfrau.
Auf dem Tisch aber standen herrliche Leckerbissen. Der Jüngling griff nach Herzenslust zu, küsste die schlafende Jungfrau und kehrte in seinen Kerker zurück. Als die Jungfrau erwachte, wunderte sie sich sehr, dass jemand ihr Nachtmahl verspeist hatte. Außer den Bediensteten betrat nämlich nie eine Menschenseele ihr Zimmer!
In der zweiten Nacht geschah dasselbe. Die dritte Nacht kam, und die Tochter des Khans beschloss, den ungebetenen Gast abzupassen. Wieder kam der Jüngling zum Nachtmahl, doch als er die Jungfrau küssen wollte, um sich dann wieder fort zu schleichen, schlug sie die Augen auf.
Da erschrak der Sohn des Schneiders, die holde Jungfrau aber suchte ihn zu beruhigen und fragte: »Wer bist du, und wie kommst du hierher?« Der Jüngling erzählte alles, was ihm widerfahren war. Von diesem Abend an trafen sie sich ein ganzes Jahr lang, denn die Tochter des Khans hatte sich in den jungen Mann verliebt!
Eines Tages sandte ein anderer Khan aus einem fernen Land unserem Khan mehrere Stuten mit der Bitte, festzustellen, welches Pferd am ältesten, welches jünger und welches am aller jüngsten sei. Alle drei Stuten waren von der gleichen Farbe, der gleichen Größe und hatten die gleichen Merkmale.
Der Khan ließ all seine Untertanen rufen, doch keiner vermochte das Alter der Stuten zu bestimmen. Das betrübte den Khan, und er begab sich zu seiner Tochter, um ihr sein Leid zu klagen. Die Tochter riet ihm, dem Gefangenen diese Stuten zu zeigen.
Unterdessen erzählte die schöne Jungfrau alles dem Schneider Sohn und fügte hinzu: »Wenn dich der Khan fragt, ob du sagen kannst, welche von den Stuten die älteste ist, so antworte, dass du das kannst, es aber nur dann tun willst, wenn der Khan verspricht, dich mit seiner Tochter zu vermählen.«
Der Jüngling tat, wie ihm das Mädchen geheißen. Der Khan war zwar entrüstet über die Frechheit des Jünglings, doch es blieb ihm nichts anderes übrig, er musste einwilligen. Drauf sagte der Schneider Sohn, wie alt die Stuten waren.
Nun fragte der Khan den Jüngling noch einmal, was jener damals geträumt habe, doch der Schneider Sohn verweigerte abermals die Antwort, und der Khan ließ ihn wieder in den Kerker werfen. Und aufs Neue trafen sich der Jüngling und die Tochter des Khans in aller Heimlichkeit.
Inzwischen sandte der Khan aus dem fernen Land, der die Stuten geschickt hatte, unserem Khan eine Botschaft mit der Bitte, den berühmten Hellseher an seinen Hof zu schicken. So reiste der Jüngling zu dem fremden Khan. Als er den Palast erreichte, ging er sofort durch alle Zimmer.
In der erste Nacht erblickte er keine Menschenseele, im neunten Zimmer aber sah er eine wunderschöne Jungfrau. Die Jungfrau erschrak, doch nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte, fragte sie den Jüngling: »Wer bist du, und was führt dich hierher?« Der Schneider Sohn erzählte alles, was es über ihn zu sagen gab.
Sie beschloss, dem jungen Mann zu helfen, und sagte: »In einer Stunde wird mein Vater kommen und dich fragen, ob du ihm aus einem Riesenstein ein Gewand nähen kannst. Bejahe die Frage, aber nur unter der Bedingung, dass dir der Khan alles gibt, was du zum Nähen brauchst.
Vor allem aber darfst du keine Fragen meines Vaters beantworten, bevor er nicht verspricht, dich mit Reichtum auszustatten, damit Du deine Braut heiraten kannst.« Das Mädchen wies dem Gast das Zimmer, in dem er die Ankunft des Khans erwarten sollte.
Nach der Begrüßung fragte der Khan, ob der Jüngling ihm seine Fragen beantworten könne. Der Schneider Sohn bejahte die Frage, unter der Bedingung, dass der Khan ihm etwas Geld gebe, damit er seine Braut heiraten könne. Der Khan versprach es.
Dann wies der Khan auf einen Felsbrocken und fragte: »Kannst du mir aus diesem Stein ein Gewand nähen?« Der Gast entgegnete: »Ja, aber gib mir Nähgarn für dieses Gewand.« Dann schaffte der Jüngling einen Haufen Sand heran und sagte: »Lass Fäden zwirnen aus diesem Sand. Nur mit solchen Fäden kann man ein Gewand aus Felsstein nähen.«
Der Khan musste sich als besiegt erklären und gab dem Jüngling eine Kiste voll Gold. Der glückliche junge Schneider kehrte heim und nahm die Tochter seines Khans zur Frau und baute ein Haus mit vielen Zimmern.
So lebte der einstmals arme Sohn eines Schneiders in Wohlstand. Bald wurde er Vater von zwei Knaben und einem Mädchen. Eines Tages, als der glückliche Ehemann in seinem Zimmer saß, trat der Khan ein und ließ sich neben dem Schwiegersohn nieder.
Der Jüngling sprach zu ihm: »Jetzt will ich dir von meinem Traum erzählen. Ich träumte von der roten Sonne und dem silbernen Mond. Die Sonne und der Mond das sind Mann und Frau, deine Tochter und Ich, und die leuchtenden Sterne sind unsere Kinder.«
So fand der einstmals bettelarme Schneider Sohn sein Glück.
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Der Khan und der Schneider · 1001 Nacht · Märchen aus dem Orient · Es lebte einst im Orient ein Khan, und er galt beim Volk als kluger Mensch.
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Autor: 1001 Nacht Märchen
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