Unterstütze AVENTIN Storys · Jeder €uro zählt · Herzlichen Dank


02 · Möwe Jonathan · Richard Bach

02 · Möwe Jonathan · Richard Bach · Novelle

Und so geschah es, dass die Möwe Jonathan an jenem Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, im rasenden Sturzflug wie ein Schuss durch das Zentrum des Möwenschwarms knallte, ein schreckliches, kreischendes Bündel aus Luftwirbeln und Federn. Doch das Glück blieb ihm treu, niemand kam zu Schaden.

Als er den Schnabel endlich wieder hochgereckt hielt, flitzte er immer noch pfeilschnell dahin, und als er endlich die Geschwindigkeit genügend verlangsamt hatte und aufatmend die Flügel ausbreitete, war der Fischkutter wieder ein Punkt auf dem Meer, zwölfhundert Meter unter ihm.

Er triumphierte. Ich habe höchste Geschwindigkeit erreicht, über zweihundert Stundenkilometer. Ein beispielloser Erfolg, das größte Ereignis: in der Geschichte des Schwarms. Eine neue Epoche beginnt. Während er zu seinem einsamen Übungsplatz hinaus flog und die Flügel zum Sturzflug aus zweitausendvierhundert Metern einfaltete, beschloss er, nun herauszufinden, wie man im Sturz die Richtung ändern kann.

Und auch das gelang. Verstellte er nur eine einzige Feder an der Flügelspitze um wenige Millimeter, so erreichte er auch bei großen Geschwindigkeiten eine weiche, fließende Kurve. Doch bis es soweit war, musste er durch Versuch und Irrtum lernen, dass man bei hoher Geschwindigkeit keinesfalls mehr als eine Feder verstellen durfte, sonst kam man wie eine Gewehrkugel in eine Drehung.

So wurde Jonathan die erste und einzige Möwe, die Kunstflugfiguren vollbrachte. An diesem Tag nahm Jonathan sich nicht die Zeit den anderen Möwen seine Kunst zu zeigen, er übte weiter bis nach Sonnenuntergang und entdeckte den Looping, die langsame Rolle um die eigene Achse, das Rollen nach Punkten, das verkehrte Trudeln, den Abschwung und das Windrad.

Es war Nacht geworden, als die Möwe Jonathan sich wieder bei dem Schwarm an der Küste einfand. Jonathan war schwindlig vor Müdigkeit, aber so glücklich, dass er beim Landen noch einen Looping machte. Wenn die anderen von diesem großen Durchbruch hören, werden sie vor Freude außer sich sein, dachte er. Ein herrliches Leben wird jetzt beginnen. Statt der einförmigen Alltagsplage mit dem ewigen Hin und Her zwischen Küste und Fischkuttern hat unser Leben jetzt einen tieferen Sinn!

Wir vermögen uns aus unserer Unwissenheit zu erheben, dürfen uns als höhere Wesen von Können und Intelligenz verstehen. Wir werden frei sein! Der Höhenflug ist erlernbar! Die kommenden Jahre lockten und glühten voller Verheißung. Als er landete, hockten die Möwen gerade bei einer Ratsversammlung beisammen, die offenbar schon lange andauerte. Und in der Tat, sie hatten auf etwas gewartet.

»Möwe Jonathan, komm bitte in die Mitte!« Der Älteste sprach die Worte sehr zeremoniell. In die Mitte kommen, das bedeutete entweder die größte Schande oder die größte Auszeichnung. Man ehrte so die obersten Anführer der Möwen.

Natürlich, dachte Jonathan, der Schwarm heute morgen … sie haben den Großen Durchbruch mitangesehen. Aber ich brauche keine Ehrung. Ich will kein Führer werden. Ich möchte sie nur teilhaben lassen an dem, was ich entdeckt habe: möchte ihnen zeigen, welch neue Horizonte sich für uns alle eröffnen. Er trat vor.

»Möwe Jonathan«, sagte der Älteste. »In deiner Schande tritt in die Mitte vor die Augen deiner Sippe!«

Jonathan war wie vor den Kopf geschlagen. Die Beine versagten den Dienst, die Flügel hingen schlaff, er hörte nur noch ein Dröhnen. In die Mitte treten zur Schande? Unmöglich… Der Große Durchbruch… Sie missverstehen es… Sie irren sich, sie irren sich. »… wegen skrupellosen Leichtsinns«, intonierte die Stimme streng, »mit dem gegen die Würde und die Traditionen der Möwen-Sippe verstoßen wurde…«

Zur Schande in die Mitte treten müssen, das bedeutete, dass man ihn aus der Gemeinschaft der Möwen ausstieß, ihn zu einem einsamen Dasein auf den Fernen Klippen verdammte.

»…eines Tages, Möwe Jonathan, wirst auch du begreifen, dass sich Verantwortungslosigkeit nicht bezahlt macht. Leben, das ist das Unbekannte, das Unerkennbare. Wir wissen nur eines: Wir wurden in die Welt gesetzt, wir müssen uns ernähren und uns, so lange es nur irgend möglich ist, am Leben erhalten.«

Keine Möwe darf je dem Urteil der Ratsversammlung widersprechen, doch Jonathan erhob die Stimme. »Verantwortungslosigkeit?« rief er aus: »Meine Brüder! Keiner kann mehr Verantwortungsbewusstsein beweisen als eine Möwe, die ein höheres Ziel erkennt, die dem Ruf folgt und den Sinn des Lebens findet. An die tausend Jahre sind wir nur mühselig hinter Fischabfällen her gewesen, jetzt aber hat unser Leben einen neuen Inhalt bekommen … zu lernen, zu forschen und frei zu sein! Gebt mir eine Chance, lasst mich euch zeigen, was ich gefunden habe…!«

Der Schwarm hockte wie aus Stein. »Die Brüderschaft ist zerbrochen«, intonierten die Möwen einmütig im Chor, schlossen feierlich die Augen und wandten sich von ihm ab. So verbrachte Jonathan sein weiteres Leben in Einsamkeit und flog weit über die fernen Klippen hinaus. Nicht die Einsamkeit bedrückte ihn. Nur die Tatsache, dass die anderen Möwen die Herrlichkeit des Fliegens nicht erleben konnten, dass sie sich weigerten, die Augen aufzumachen, zu sehen!

Täglich wurden seine Fähigkeiten vollkommener. Er lernte, im Sturzflug in Stromlinien-Haltung weit genug ins Wasser einzutauchen, um die seltenen, wohlschmeckenden Fische zu erlangen, die in Schwärmen unter der Oberfläche des Ozeans dahin zogen. Er brauchte keine Fischkutter und kein altbackenes Brot mehr zum Leben. Er lernte im Flug in der Luft zu schlafen, indem er sich bei Nacht quer zum Wind stellte, der von der Küste her blies.

So vermochte er zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang hundertsechzig Kilometer zurückzulegen. Mit Hilfe des gleichen inneren Richtungssinnes durchstieß er die schweren Seenebel und stieg über sie hinaus in blendend lichte Höhen auf … indes die anderen Möwen zur selben Zeit auf dem Boden hockend nichts als Nebel und Regen kannten. Er lernte, auf Hochwinden weit ins Land hinein zu schweben, um dort köstliche Insekten zu verspeisen.

Was er sich einst für seinen Schwarm erhofft hatte, ihm allein wurde es zuteil; er lernte, was wahrhaft Fliegen heißt, und er bereute nie den Preis, den er dafür bezahlt hatte. Die Möwe Jonathan entdeckte, dass nur Langeweile, Angst und Zorn das Leben der Möwen verkürzen. Nachdem diese drei von ihm gewichen waren, lebte er ein langes und ein wahrhaft lebenswertes Leben.

Und an einem Abend geschah es: Zwei Möwen kamen, und sie fanden Jonathan friedvoll und einsam unter seinem geliebten Himmel schwebend. Sie tauchten neben seinen Schwingen auf, sie schimmerten in reinstem Weiß und erhellten mit sanftem, sternenhaftem Leuchten die Nacht. Das Schönste aber war ihr meisterhafter Flug.

Ihre Schwingen bewegten sich in vollkommenem Gleichmaß, und die Flügelspitzen hielten sich in geringem Abstand neben den seinen. Wortlos unterwarf Jonathan sie seiner Prüfung, die noch nie eine Möwe bestanden hatte. Er drehte die Flügel und verlangsamte seinen Flug fast bis zum Stillstand. Die beiden strahlenden Vögel taten das gleiche mühelos, ohne die Lage zu verändern. Sie wussten um den langsamen Flug.

Er legte die Flügel ein, kippte vornüber und ließ sich in einen rasenden Sturzflug fallen. Sie stürzten mit ihm, schossen in geschlossener Formation senkrecht hinab. Schließlich zog er bei gleichbleibender Geschwindigkeit kerzengrade hoch in eine endlose, vertikale Spirale, und sie folgten wie schwerelos. Er fing sich zu horizontalem Flug ab und schwieg lange.

Dann fragte er: »Wer seid ihr?«

»Wir sind von deiner Art, Jonathan. Wir sind deine Brüder«. Stark und ruhig tönten die Worte. »Wir sind gekommen, um dich höher hinauf zu geleiten, wir holen dich heim.«

»Ich bin nirgends daheim. Ich gehöre zu keinem Schwarm. Ich bin ein Ausgestoßener. Und wir fliegen jetzt schon sehr hoch, wir fliegen auf dem Gipfel des Großen Bergwindes. Viel höher kann ich diesen alten Leib nicht mehr erheben.«

»Oh doch, du kannst es, Jonathan. Du hast viel gelernt. Die eine Lehrzeit ist zu Ende, die Zeit ist gekommen, um in einer anderen neu zu beginnen.«

Das Licht, das ihm sein Leben lang geleuchtet hatte, das Licht des Verstehens, erhellte auch diesen Augenblick. Die Möwe Jonathan verstand. Sie hatten recht. Er konnte höher fliegen, es war Zeit, heimzugehen.

Mit einem letzten, langen Blick nahm er Abschied von seinem Himmel, von diesem majestätischen silbernen Reich, das ihn soviel gelehrt hatte »Ich bin bereit«, sagte er dann.

Und die Möwe Jonathan erhob sich mit den beiden sternenhellen Möwen und entschwand in vollkommene Dunkelheit.

02 · Möwe Jonathan · Richard Bach · Novelle

02 · Möwe Jonathan · Richard Bach · AVENTIN Storys
Unterstütze AVENTIN Storys · Jeder €uro zählt · Herzlichen Dank
moewe jonathan aventin storys 04 24

02 · Möwe Jonathan · Richard Bach · Novelle · Und so geschah es, dass die Möwe Jonathan an jenem Morgen, nach Sonnenaufgang ...

URL: https://aventin.de/02-moewe-jonathan-richard-bach/

Autor: Richard Bach

Bewertung des Redakteurs:
4


Sei in diesem Moment glücklich, das ist genug. Wir brauchen nicht mehr, als diesen Moment.


Mutter Theresa