Vorbei vorbei · Wolfgang Borchert · Kurzgeschichte
Manchmal traf er sich selbst. Er kam mit weichem Schritt schiefschultrig auf sich zu, seine Haare waren übermäßig lang, dass sie das eine Ohr überhingen, er gab sich die Hand, nicht sehr fest, und sagte: Tag. Tag. Wer bist du? Du. Ich? Ja.
Und dann sagte er zu sich selbst: Warum schreist du manchmal? Das ist das Tier. Das Tier? Das Tier Hunger. Und dann fragte er sich: Warum weinst du oft? Das Tier! Das Tier! Das Tier? Das Tier Heimweh. Das weint. Das Tier Hunger, das schreit. Und das Tier Ich – das türmt. Wohin? Ins Nichts.
Es gibt kein Tal für eine Flucht. Überall treffe ich mich. Am meisten in den Nächten. Aber man türmt immer weiter. Das Tier Liebe greift nach einem, aber das Tier Angst bellt vor den Fenstern, dahinter das Mädchen und sein Bett stehen.
Und dann kichert der Türdrücker und man türmt. Und immer ist man hinter sich her. Mit dem Tier Hunger im Bauch und mit dem Tier Heimweh im Herzen. Aber es gibt kein Tal für eine Flucht. Immer trifft man sich. Überall. Man kann sich nicht entgehen.
Manchmal traf er sich selbst. Aber dann türmte er wieder. Unter Fenstern pfeifend vorbei und an Türen hustend entlang. Und manchmal, dann hielt ihn ein Herz für die Nacht, eine Hand. Oder ein Hemd, das verrutscht war von einer Schulter, von einer Brust, von einem Mädchen. Manchmal, dann hielt ihn eine für eine Nacht. Und dann vergaß er zwischen den Küssen den anderen, der er selbst war, wenn eine ganz für ihn war. Und lachte. Und litt.
Es war gut, wenn man eine bei sich hatte, eine mit langen Haaren und heller Wäsche. Oder Wäsche, die mal hell war und mit Blumen drauf. Und wenn sie noch ein Stück Lippenstift hatte, dann war das gut. Dann war doch was bunt.
Und im Finstern war es besser, wenn man eine bei sich hatte, dann war das Finstersein nicht so groß. Und dann war das Finstersein auch nicht so kalt. Und das Stück Lippenstift malte dann einen kleinen Ofen aus ihrem Mund. Der brannte dann. Das war gut im Finstersein. Und die Wäsche, die sah man eben nicht. Aber man hatte doch einen bei sich.
Eine hat er gekannt, deren Haut war im Sommer wie Hagebutten. Bronzen. Und ihr Haar hatte sie von Zigeunern, mehr blau als schwarz. Und es war wie Wald: wirr.
Auf ihrem Arm waren wie Kükenfedern helle Härchen und ihre Stimme war anzüglich wie von Hafenmädchen. Dabei wusste sie von nichts. Und hieß Karin. Und die andere hieß Ali und ihr butterblondes Haar war hell wie Seesand. Beim Lachen machte sie die Nase sehr kraus und sie biss.
Aber dann kam einer, der war ihr Mann. Und vor einer Tür stand immer kleiner werdend ein Mann, grau und mager, und sagte: Ist gut, mein Junge. Später wusste er: Das war mein Vater.
Und die mit den Beinen, die wie Trommelstöcke unruhig waren, hieß Carola, rehbeinig, nervös. Und ihre Augen machten verrückt. Und ihre Zähne standen vorne leicht auseinander. Die kannte er. Und der alte Mann sagte nachts manchmal: Ist gut, mein Junge.
Eine war breit in den Hüften, bei der war er. Sie roch nach Milch. Ihr Name war brav – aber er hat ihn vergessen. Vorbei. Morgens sangen manchmal die Goldammern erstaunt – aber seine Mutter war weit weg und der graue magere Mann sagte nichts. Denn keiner kam vorbei. Und die Beine gingen unter ihm ganz von selbst: vorbei vorbei.
Und die Goldammern wussten schon morgens: vorbei vorbei. Und die Telegrafendrähte summten: vorbei vorbei. Und der alte Mann sagte nichts mehr: vorbei vorbei. Und die Mädchen hielten abends die Hände auf die sehnsüchtige Haut: vorbei vorbei. Und die Beine gingen von ganz alleine: vorbei vorbei.
Einmal hatte man einen Bruder. Mit dem war man Freund. Aber dann surrte sich summend wie ein gehässiges Insekt ein Stück Metall durch die Luft auf ihn zu. Es war Krieg. Und das Stück Metall klitschte wie ein Regentropfen auf die menschliche Haut: Da blühte das Blut wie Klatschmohn im Schnee.
Der Himmel war aus Lapislazuli, aber den Schrei nahm er nicht an. Und der letzte Schrei, den er schrie, hieß nicht Vaterland. Der hieß nicht Mutter und nicht Gott. Der letzte geschriene Schrei war sauer und scharf und hieß: Essig. Und war nur leise geflucht: Essig.
Und der zog ihm den Mund zu. Für immer. Vorbei. Und der magere graue Mann, der sein Vater war, sagte nie mehr: Ist gut, mein Junge. Nie mehr. Das war nun alles alles vorbei.
Vorbei vorbei · Wolfgang Borchert · Kurzgeschichte
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Vorbei vorbei · Wolfgang Borchert · Kurzgeschichte · Manchmal traf er sich selbst. Er kam mit weichem Schritt schiefschultrig auf sich zu.
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Autor: Wolfgang Borchert
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Das Leben ist wundervoll. Es gibt Augenblicke, da möchte man sterben. Aber dann geschieht etwas Neues, und man glaubt, man sei im Himmel.
Edith Piaf