Steckenpferd eines Mannes · Curt Emmrich · Schottland
In Edinburgh (Schottland) hat ein Mann seinen achtzigsten Geburtstag gefeiert, der über eine einzigartige, die ganze Welt umfassende Sammlung verfügt.
Obwohl er eine der besten Sachen, die es überhaupt auf unserer Erde gibt, gesammelt hat, gilt er für einen Narren.
Das Sammeln ist des Knaben früheste Leidenschaft. Was die Hosentasche eines Jungen im Alter von vier Jahren alles enthalten kann, davon kann sich eine erwachsene Fantasie kaum einen Begriff machen.
Nicht nur, dass eine solche Hosentasche die aller merkwürdigsten und aller verschiedenartigsten Gegenstände enthalten kann, jeder einzelne dieser Gegenstände ist ein Abenteuer, eine Entdeckung, ein Symbol, ein Stück eroberter Umwelt.
Einer jener magischen Sachverhalte, deren Ursprung in die Urzeiten des menschlichen Geschlechts zurückreicht, hat dazu geführt, dass Mädchen keine Hosentaschen haben.
Das Gehirn eines erwachsenen Mannes ist von der Hosentasche seiner Knabenzeit nicht sehr verschieden. Er bewahrt darin die aller merkwürdigsten und aller verschiedenartigsten Dinge, die der Zufall des Lebens an seinem Periskop vorübergeschwemmt hat.
Dazu ist er der festen Überzeugung, dass gerade das die wichtigsten Dinge von der Welt seien. Die Hosentasche der erwachsenen Knaben weitet sich. Das Sammeln ist die früheste Leidenschaft des Knaben und die letzte Freude des alten Mannes.
Wenn die Männer alle Dinge des Lebens mit soviel Sachkenntnis, Aufopferung und Begeisterung betreiben würden wie das Sammeln, würde sich die Welt vermutlich bedeutend angenehmer und friedlicher präsentieren, als sie es derzeit tut.
Männer sammeln Briefmarken, Raffaels, Spazierstöcke, Glimmerschiefer, Frauen und Goethebriefe, je nachdem.
Zweifellos sind diese Gegenstände nicht immer von gleichem Rang. Es ist zudem nicht ratsam, sich mit Sammlern über den Rang zu streiten. Von allen edlen Pferden auf dieser Welt ist das Steckenpferd wohl das edelste.
Der Mann in Edinburgh hat weder Glimmerschiefer noch Briefe von Goethe gesammelt. Er sammelte etwas, was wir alle zum Leben brauchen, etwas, dem die Landschaft ihr Grün und die Speisekarte ihren zweiten Gang verdankt, etwas, was Reichtum auf seinem Rücken trägt und jedem Armen gehört, etwas was wir im Winter beschreiten, um uns im Sommer hineinzustürzen.
Der Narr in Edinburgh sammelte das Wasser von Flüssen. Wenn er tot sein wird, wird man alle Flüsse der Welt in einen Eimer gießen und das Steckenpferd, das keinen Herrn mehr hat, darin ersäufen. Das Steckenpferd wird um seinen Tod nicht trauern.
Wir aber sollten daran denken, uns ähnlich bunt gezäumte Tiere in den Stall unseres Feierabends zu stellen. Wenn die Narrheit nicht dafür sorgt, dass die Welt bunter wird, dann wird sie vor Vernunft so grau werden, dass sie keinem Weisen mehr gefallen kann.
Steckenpferd eines Mannes · Curt Emmrich · Schottland · Edinburgh · Story
Gehe mal wieder in einen Park oder in die freie Natur und versuche alles um dich herum verschiedene Sträucher und Gräser, Blumen, Vogelgezwitscher, Lärm, Wind, Regen oder Sonne bewusst wahrzunehmen.
Aventin