Nachbarschaft · Gerhard Zwerenz · Sich nicht alles gefallen lassen
Wir wohnten im dritten Stock, mitten in der Stadt, und haben uns nie etwas zuschulden kommen lassen. Mit den Dörfelts von gegenüber verband uns eine jahrelange Freundschaft, bis die Frau sich kurz vor Weihnachten unsere Bratpfanne auslieh und nicht zurückbrachte.
Als meine Mutter dreimal vergeblich gemahnt hatte, riss ihr eines Tages die Geduld, und sie sagte auf der Treppe zu Frau Muschg, die im vierten Stock wohnte, Frau Dörfelt sei eine Schlampe. Irgendwer muss das den Dörfelts hinterbracht haben, denn am nächsten Tag überfielen Klaus und Achim unseren Jüngsten, den Hans, und prügelten ihn windelweich.
Ich stand gerade im Hausflur, als Hans ankam und heulte. In diesem Moment trat Frau Dörfelt drüben aus der Haustür, ich lief über die Straße, packte ihre Einkaufstasche und stülpte sie ihr über den Kopf. Sie schrie aufgeregt um Hilfe, als sei sonst was los, dabei drückten sie nur die Glasscherben etwas auf den Kopf, weil sie ein Paar Milchflaschen in der Tasche gehabt hatte.
Vielleicht wäre die Sache noch gut ausgegangen, aber es war just um die Mittagszeit und da kam Herr Dörfelt mit dem Wagen angefahren. Ich zog mich sofort zurück, doch Elli, meine Schwester, die mittags zum Essen heimkommt, fiel Herrn Dörfelt in die Hände. Er schlug ihr ins Gesicht und zerriss dabei ihren Rock.
Das Geschrei lockte unsere Mutter ans Fenster und als sie sah, wie Herr Dörfelt mit Elli umging, warf unsere Mutter mit Blumentöpfen nach ihm. Von Stunde an herrschte erbitterte Feindschaft zwischen den Familien.
Weil wir nun Dörfelts nicht mehr über den Weg trauten, installierte Herbert, mein ältester Bruder, der bei einem Optiker zur Lehre ging, ein Scherenfernrohr am Küchenfenster. Da konnte unsere Mutter, war sie allein, die Dörfelts beobachten.
Augenscheinlich verfügten diese aber über ein ähnliches Instrument, denn eines Tages schossen sie von drüben mit einem Luftgewehr herüber. Ich erledigte das feindliche Fernrohr dafür mit einem Kleinkalibergewehr. An diesem Abend ging unser Volkswagen unten im Hof in die Luft.
Unser Vater, der als Oberkellner im hoch renommierten Café Imperial arbeitete, nicht schlecht verdiente und immer für den Ausgleich eintrat, meinte, wir sollten uns jetzt an die Polizei wenden.
Aber unserer Mutter passte das nicht, denn Frau Dörfelt verbreitete in der ganzen Straße, wir, das heißt unsere gesamte Familie, seien derart schmutzig, dass wir mindestens zweimal jede Woche badeten und für das hohe Wassergeld, das die Mieter zu gleichen Teilen zahlen müssen, verantwortlich wären.
Außerdem hätte die Frau Dörfelt die zu Weihnachten ausgeliehene Bratpfanne immer noch nicht zurückgegeben. So beschlossen wir, den Kampf aus eigener Kraft in aller Härte aufzunehmen. Wir konnten ja auch nicht mehr zurück, verfolgte doch die ganze Nachbarschaft jetzt gebannt den Fortgang des Streites.
Am nächsten Morgen schon wurde die Straße durch ein mörderisches Geschrei geweckt. Wir lachten uns halbtot, Herr Dörfelt, der früh als Erster das Haus verließ, war in eine tiefe Grube gefallen, die sich vor seiner Haustür erstreckte. Er zappelte ganz schön in dem Stacheldraht, den wir gezogen hatten, nur mit dem linken Bein zappelte er nicht, das hielt er fein still, denn das hatte er sich gebrochen.
Bei alledem konnte der Mann noch von Glück sagen, denn für den Fall, dass er die Grube bemerkt und umgangen hätte, war ein Zünder einer Plastikbombe mit dem Anlasser seines Wagens verbunden. Damit ging kurze Zeit später Klunker-Paul, ein Untermieter von Dörfelts, hoch, der den Arzt holen wollte.
Es ist bekannt, dass die Dörfelts leicht überziehen. So gegen zehn Uhr begannen sie unsere Hausfront mit einem Flakgeschütz zu beschießen. Sie mussten sich erst einschießen, denn die Einschläge befanden sich nicht alle in der Nähe unserer Fenster.
Das konnte uns nur recht sein, denn jetzt fühlten sich auch die anderen Hausbewohner verärgert, und Herr Lehmann, der Hausbesitzer, begann um das Haus und den Putz zu fürchten. Eine Weile sah er sich die Sache noch an, als aber zwei Granaten in seiner guten Stube explodierten, wurde er nervös und übergab uns den Schlüssel zum Dachboden.
Wir robbten sofort hinauf und rissen die Tarnung von der Atomkanone herunter. Es lief alles wie am Schnürchen, wir hatten den Einsatz schon oft genug geübt. Die werden sich jetzt ganz schön wundern, triumphierte unsere Mutter und kniff als Richtkanonier das rechte Auge fachmännisch zusammen.
Als wir das Rohr genau auf Dörfelts Küche eingestellt hatten, sah ich drüben gegenüber im Bodenfenster ein gleiches Rohr blinzeln, das hatte freilich keine Chance mehr, Elli, unsere Schwester, die den Verlust ihres Rockes nicht verschmerzen konnte, hatte zornroten Gesichts das Kommando »Feuer« erteilt.
Mit einem unvergesslichen Fauchen verließ die Atomgranate das Rohr, zugleich fauchte es auch auf der Gegenseite. Die beiden Geschosse trafen sich genau in der Straßenmitte.
Natürlich sind wir nun alle tot, die Straße ist hin, und wo unsere Stadt früher stand, breitet sich jetzt ein verbrannter graubrauner Flecken aus.
Aber eins muss man sagen, wir haben das Unsere getan. Schließlich kann man sich nicht alles gefallen lassen. Die Nachbarn tanzen einem ja sonst auf der Nase herum!
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Autor: Gerhard Zwerenz
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Wo das Bewusstsein schwindet, dass jeder Mensch uns als Mensch etwas angeht, kommen Kultur und Ethik ins Wanken.
Albert Schweitzer