Melusine

Melusine und das Schloss Staufenberg · Deutsche Sage · Durbach

Im Schloss Staufenberg unweit des Weinortes Durbach wohnte einst ein Amtmann, dessen Sohn Sebald Vogelsteller war. Als der Jüngling wieder einmal im Stollenberger Wald seine Liebhaberei betrieb, hörte er einen lieblichen Gesang. Er ging bergauf den klangvollen Tönen nach.

Da erblickte er im Gebüsch eine wunderschöne Frau. Flehend schaute diese den herantretenden Jüngling an und rief: »Schon lange harre ich deiner. Ich bin verwünscht. Erbarme dich meiner und erlöse mich! Du brauchst mich nur dreimal dreifach zu küssen, dann bin ich erlöst.«

Auf Sebalds Frage, wer sie denn sei, antwortete die Waldfrau: »Ich heiße Melusine und habe einen großen Brautschatz. Wenn du mich erlöst, bin ich mit meinem Schatze dein. Du musst mich nur drei Morgen hintereinander, früh um neun Uhr, auf beide Wangen und den Mund küssen. Dann ist die Erlösung vollbracht. Fürchte dich nicht, besonders nicht am dritten Tag!«

Melusine trat dann aus dem Busch hervor, und Sebald konnte sie genau betrachten. Sie war sehr schön, blond und hatte blaue Augen, aber keine Finger. Statt ihrer sah man eine trichterförmige Höhlung und an Stelle der Beine Fischschwänze. Sebald gab ihr zunächst die ersten drei Küsse. Darüber war Melusine sehr erfreut und bat ihn, am zweiten und dritten Tag ganz bestimmt wiederzukommen.

Alsdann kroch sie wieder in ihren Busch zurück und sang: Komm und erlöse deine Braut, Hüte dich wohl zu erschrecken! Sebald, nimm dich wohl in acht! Einmal war es recht gemacht. Dann verschwand sie wieder und Sebald ging heim, sagte aber nichts von seinem Erlebnis. Am anderen Morgen eilte er wieder in den Stollenberger Wald; Melusine sang wie tags zuvor, und er näherte sich ihr.

Diesmal hatte sie jedoch Flügel und einen Drachenschweif. Trotzdem trat Sebald furchtlos auf sie zu und küsste sie dreimal. Melusine bedankte sich wieder wie am ersten Tag und versank in die Erde.

Am dritten Tag aber hatte Melusine einen scheußlichen Krötenkopf, und ein riesengroßer Drachenschwanz umschlang ihren ganzen Leib. Da erfasste Sebald ein großes Grauen vor dem giftträufelden Ungeheuer, und er rief abwehrend: »Kannst du mir nicht dein menschliches Antlitz zeigen, so kann ich dich nicht küssen!«

»NEIN!« rief Melusine und streckte mit lautem Schrei ihre beiden Arme nach ihm aus. Da floh Sebald Furcht erschrocken und von großem Entsetzen gepackt, den Berg hinunter. Atemlos kam er bei seinem Vater in der Burg an. Als er nun sein Erlebnis erzählte, wurde er vom Vater wegen seiner Furchtsamkeit auch noch gescholten.

Zwei Jahre vergingen. Sebald suchte den Stollenberger Wald nicht mehr auf, denn er fürchtete die Rache der von ihm betrogenen Waldfrau. Auf Wunsch seines Vaters heiratete er sodann die Tochter eines Amtsvogtes. Die Hochzeit wurde im Schloss Staufenberg abgehalten.

Als aber die Gesellschaft gerade fröhlich beim Schmause saß, spaltete sich die Decke des Saales, und ein gelber Tropfen fiel auf Sebalds Teller. Sebald hatte dies gar nicht bemerkt und aß weiter. Da fiel er plötzlich tot nieder. Zu gleicher Zeit zog sich ein kleiner Schlangenschwanz in die Decke zurück.

So rächte sich die verzauberte Melusine an dem Mann, der ihre Hoffnung auf Erlösung so arg enttäuscht hatte.

Melusine und das Schloss Staufenberg · Deutsche Sage · Durbach

Niemand ist nutzlos in dieser Welt, der einem anderen die Bürde leichter macht.

Charles Dickens