Der zehnte Kreis · Carl Amery

Der zehnte Kreis · Carl Amery · Alternative Literatur

Dante sah den zehnten Kreis nicht; er konnte ihn nicht sehen. Wer waren die tiefsten, die gewaltigsten Übeltäter seines neunten, des Eiskreises? Wen zermalmte Dis, der Höllenfürst, in seinen drei Rachen auf ewig?

Judas, Brutus, Cassius. Das sind: die drei Verräter am himmlischen und am irdischen Reich, die Erz-Verräter. Schlimmere Untat als diesen Verrat konnte der Führer Virgilius seinem Schützling nicht weisen, schlimmere waren nicht vorstellbar.

Aber was ist der Verrat des Judas, des Brutus, des Cassius – gegen die Untat des Hilmar Becker, ev., verh. gebürtig 1944 zuhause im linksrheinischen Deutschland?

Die Hölle ist leer. Dis, ihr Fürst, ist verschwunden wie Rauch und alle Schatten der neun Kreise mit ihm; alle Stolzen, Wollüstigen, Geizigen, Mörder, alle Verbrecher wider Glaube, Liebe und Hoffnung.

Der große Trichter, in dem sie dahin trieben und gemartert wurden von Stufe zu Stufe, von Kreis zu Kreis, war ja Teil der Welt, der Erde, geschaffen durch den Sturz Satans in den Bauch seines Planeten.

Er ist leer – wie die Hölle. Leer von Gutem wie von Bösem. Er ist ohne Bewusstsein. Nicht einmal die Reflexe des kleinsten Insekts sind ihm verblieben, nur die Gleichgültigkeit der Felsen und Stürme, die Relation zur Schwerkraft himmlischer Körper in einer kleinen Milchstraße am Rand des Universums.

Und der zehnte Höllenkreis, reserviert für Hilmar Becker – bis in alle Ewigkeit.

Warum? Was macht ihn verworfener als Satan selbst, als Judas, Kain, Hitler, Stalin, Dschinghis-Khan?

Er selbst weiß es nicht; und niemand, der ihn kannte, hätte es gewusst oder begriffen. Hilmar Becker, Juniorchef der Firma Polyphan & Co., 460 Beschäftigte, war ein angenehmer Zeitgenosse.

Wäre nicht die zwingende Pflicht gewesen, das väterliche Unternehmen weiterzuführen, wäre er vielleicht ein lokaler Theaterkritiker geworden oder auch Studienrat. Er las gern moderne Literatur, plauderte abends am prasselnden Rauhputz-Kamin über Beckett, Salinger und Handke.

Er war so gewissenhaft, dass er Schönberg- und Webernplatten kaufte, obwohl er Figaros Hochzeit für das größte Musikwerk der Welt hielt und obwohl er den Amateur-Wettbewerb der Eurovision für lateinamerikanischen Gesellschaftstanz gewann.

Für einen Mann seines Jahrgangs war er überdurchschnittlich gefühlvoll. Er weinte seit seinem sechzehnten Lebensjahr achtmal; davon zweimal am Grab seiner Eltern und einmal, nachdem er seine Ehefrau betrogen hatte, eine weißblonde, weiche, kirschmündige Dentistentochter, die er trotz ihrer bösartigen, egoistischen Dummheit nicht verließ.

Als Arbeitgeber war Hilmar Becker vorbildlich. Er zahlte weit über Tarif, praktizierte vor allen anderen der Branche innerbetriebliche Mitbestimmung wie Miteigentum und ermöglichte über die Hilmar-Becker-Senior-Stiftung vierzehn Arbeitersöhnen und sechs Arbeitertöchtern das Studium.

Er trat politisch hervor durch ganzseitige, von ihm allein bezahlte Zeitungsanzeigen vor den entscheidenden Bundestagswahlen, welche die fortschrittliche Koalition unterstützten und alle Wähler aufforderten, das nämliche zu tun. Er verlor dadurch viele Freunde seiner Gesellschaftsklasse, aber er weinte nicht, als ihm dies klar wurde.

Er hatte viele linke Freunde, Revisionisten und Revolutionäre. Die Revisionisten sagten: Ja, wenn alle wie Hilmar wären! Die Revolutionäre sagten: Gott sei Dank sind nicht alle so wie Hilmar. Fast alle dieser Freunde waren Intellektuelle oder solche, die sich dafür hielten.

Er pflegte sie, Revolutionäre und Revisionisten, in seiner Skihütte bei Cortina d’Ampezzo zu beköstigen und war ihnen dankbar dafür, dass sie ihm ihre Zeit opferten. Von der Wichtigkeit der Zeit machte er sich unternehmerische, also übertriebene Vorstellungen.

Warum also ist Hilmar Becker der letzte, der einzige Insasse der Hölle? Er begreift das nicht. Sein christlich-fortschrittliches Gewissen sucht nach Gründen. Er verwirft sie alle, wie seinerzeit der gerechte Hiob die Gründe für sein Elend verwarf.

War es vielleicht diese Sekretärin? Aber wo ist dann sie selbst, die Dame, die damals immerhin die Initiative ergriffen hatte und genau wusste, dass er verheiratet war? Ist ihm ein begabter Arbeitersohn nicht aufgefallen? Oder eine Arbeitertochter? Hätte er seinen Betrieb komplett sozialisieren, hätte er eine innerbetriebliche Räteverfassung einführen sollen?

Und wenn – wo waren dann Herr Abs und Herr Flick und die entsprechenden amerikanischen, englischen, französischen Herren, die alle viel reaktionärer waren als er?

Hilmar Becker begreift nicht, und dass er nicht begreift, ist seine tiefste Höllenqual. Sie ist furchtbarer als die der drei großen Verräter. Jene wussten immerhin, warum sie ewiglich zerfleischt wurden in satanischen Kiefern.

Aber würde er begreifen, wenn er wüsste? Würde er den Schiedsspruch des großen Megacomputers anerkennen, der als letzte Institution der Erde funktionierte und entschied, dass Hilmar Becker der Mörder der Welt war? Nicht nur der Milliarden Chinesen, Amerikaner, Russen, Bengalen, Ovambos, kurz der Menschheit – sondern auch der Rinder, Rehe, Fische, Tiger, Möwen, Kohlweißlinge, Nematoden – kurz aller Wesen, die auf Sauerstoff angewiesen sind?

Hilmar Becker ist der Mörder der Welt wegen des Prozesses Polyphan & Co. gegen die Bundesrepublik Deutschland, der in den Jahren 198x . . . bis 199x . . . stattfand. Er führte ihn mit ausdrücklicher Billigung seines Betriebsrats. Schließlich ging es um Arbeitsplätze.

Er stellte dem Rat klar, dass die Vollmachten des neuen Öko-Ministeriums genügten, um den Bau der komplizierten Kläranlage zu erzwingen; dass die erforderlichen Investitionen nach dem Verursachungsprinzip von der Polyphan zu leisten seinen; dass dadurch die Gewinnausschüttung zehn Jahre lang auf null bis einskommafünf Prozent des Kapitals reduziert werden würde – und zwar des nominellen, nicht des wirklichen.

Wenn man aber den Prozess durch alle Instanzen führte, wäre trotz der hohen Anwaltskosten für weitere drei Jahre die bisherige Ausschüttung garantiert, eine höhere als die bisherige wahrscheinlich. Bis dahin könnten alle Betriebsangehörigen weiter sehen.

Der Betriebsrat war sozialistisch, aber für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Er dachte an die laufenden Ratenzahlungen der meisten Beschäftigten, an den Urlaub, der bevorstand, und ging einstimmig auf Hilmar Beckers Alternativvorschlag ein. Die komplizierte Kläranlage blieb aber vorläufig ungebaut.

In jenen Jahren gingen die Weltmeere der Einstellung ihrer Sauerstoffproduktion entgegen. Ehrlichs, des amerikanischen Ökologen, Warnung war zwar gehört worden, aber der Apparat, der notwendig gewesen wäre, um den Trend der Weltwirtschaft zu wenden, kam nicht mehr zustande. Die Immission immer größerer Giftmassen war logisch, ebenso logisch war ihre Folge. Die Welt begann zu sterben, erst langsam, dann schnell.

Die Menschheit, die zäheste aller Lebensformen, verlangte einen Schuldigen. Während die Städte in Anarchie versanken, während die Meere sterile Wassergumpen wurden und die Vögel ihre Bruttätigkeit einstellten, forderte der Krisenstab der UN alles verfügbare Material von den Öko-Ministerien der Welt an und ließ es an OMEGAPOINT verfüttern, das Wunder des MIT, den großen Megacomputer, mit der kurzen Frage: WER WAR’S?

OMEGAPOINT wisperte sich die Billionen von Bytes aus seinen Banken zu, in Nanosekunden schossen sie durch die Relaismasken.

An dem Tag, an dem ein Mob aus der brennenden Strip City Basel-Rotterdam etliche Dutzend Industrieller ergriff und am Loreleifelsen aufhängte, darunter auch den verwunderten Hilmar Becker (mit dem letzten Blick gewahrte er unter den Erregten ein Mitglied seines Betriebsrats, das immer für Sozialismus mit menschlichem Antlitz gewesen war), hatte OMEGAPOINT die Antwort gefunden – die letzte, sehr bescheidene Immissionsmenge, die wie ein Kippschalter die Prozesse der Meere endgültig umgelegt hatte, war aus dem Polyphanwerk in den Rhein geflossen.

Und da irgendeine Gerechtigkeit ja sein muss, sitzt Hilmar Becker hier im zehnten Höllenkreis, der eigens für ihn geschaffen wurde: für den Kain allen Lebens, den Judasverräter jedes Menschensohns, den Vernichter aller Historie, den Mörder des Planeten.

Jede Verheißung ist nun von der Erde verschwunden (wo werden die Toten auferstehen?) und damit auch jede Verdammnis. Im Nichts schwimmt Hilmar Becker, in der Kälte des Raums. Er hat den Richterspruch nie erfahren. Wird er ihm einmal offenbar? Ist es möglich, dass irgendeiner antwortet, ehe der kalte Planet in die Sonne stürzt oder die Sonne selbst zur Nova wird?

Aber wozu? Hilmar Becker würde selbst dann nicht begreifen. Sein Gewissen ist eine zarte, komplizierte, evangelisch-liberalsoziale Maschine, fast so fein wie OMEGAPOINT – aber die Speicherkapazität genügte nicht.

Er hatte sich so viel gemerkt, dass die wirklich entscheidenden Daten zu ihm einfach nicht mehr durchdrangen.

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Autor: Carl Amery

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Dalai Lama