Bäume sind Heiligtümer · Urgesetz · Hermann Hesse
Bäume sind für mich immer die eindringlichsten Prediger gewesen.
Ich verehre sie, wenn sie in Völkern und Familien leben, in Wäldern und Hainen. Und noch mehr verehre ich sie, wenn sie einzeln stehen.
Sie sind wie Einsame. Nicht wie Einsiedler, welche aus irgendeiner Schwäche sich davongestohlen haben, sondern wie große, vereinsamte Menschen, wie Ludwig van Beethoven oder Friedrich Nietzsche.
In ihren Wipfeln rauscht die Welt, ihre Wurzeln ruhen im Unendlichen; allein sie verlieren sich nicht darin, sondern erstreben mit aller Kraft ihres Lebens nur das Eine: ihr eigenes, in ihnen wohnendes Gesetz zu erfüllen, ihre eigene Gestalt auszubauen, sich selbst darzustellen.
Nichts ist heiliger, nichts ist vorbildlicher als ein schöner, starker Baum.
Wenn ein Baum umgesägt worden ist und seine nackte Todeswunde der Sonne zeigt, dann kann man auf der lichten Scheibe seines Stumpfes und Grabmals seine ganze Geschichte lesen.
In den Jahresringen und Verwachsungen steht aller Kampf, alles Leid, alle Krankheit, alles Glück und Gedeihen treu geschrieben, schmale Jahre und üppige Jahre, überstandene Angriffe, überdauerte Stürme.
Und jeder Bauernjunge weiß, dass das härteste und edelste Holz die engsten Ringe hat, und dass hoch in den Bergen und in immerwährender Gefahr die unzerstörbarsten, kraftvollsten und vorbildlichsten Stämme wachsen.
Bäume sind Heiligtümer. Wer mit ihnen zu sprechen, wer ihnen zuzuhören weiß, der erfährt die Wahrheit. Sie predigen nicht Lehren und Rezepte, sie predigen, um das Einzelne unbekümmert, das Urgesetz des Lebens.
Bäume sind Heiligtümer · Urgesetz des Lebens · Hermann Hesse · Essay
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Bäume sind Heiligtümer · Urgesetz des Lebens · Hermann Hesse · Essay · Bäume sind für mich immer die eindringlichsten Prediger gewesen.
URL: https://aventin.de/baeume-sind-heiligtuemer-urgesetz/
Autor: Hermann Hesse
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Wir leben in einem gefährlichen Zeitalter. Der Mensch beherrscht die Natur, bevor er gelernt hat, sich selbst zu beherrschen.
Albert Schweitzer