05 · Der kleine Prinz

05 · Der kleine Prinz · Antoine de Saint-Exupéry · Novelle

Jeden Tag erfuhr ich etwas Neues über den Planeten, über die Abreise und über die Fahrt. Das ergab sich ganz sachte im Lauf meiner Überlegungen. So lernte ich am dritten Tag die Tragödie der Affenbrotbäume kennen.

Auch dies verdanke ich schließlich dem Schaf, denn unvermittelt fragte mich der kleine Prinz, als wäre er von einem schweren Zweifel geplagt:

»Es stimmt doch, dass Schafe Stauden fressen?«
»Ja, das stimmt.«
»Ach, da bin ich aber froh!«

Ich verstand nicht, warum es so wichtig war, dass Schafe Stauden fressen. Aber der kleine Prinz fügte hinzu: »Dann fressen sie doch auch Affenbrotbäume?«

Ich erklärte dem kleinen Prinzen ausführlich, dass Affenbrotbäume doch keine Stauden sind, sondern kirchturmhohe Bäume, und selbst wenn er eine ganze Herde Elefanten mitnähme, würde diese Herde nicht mit einem einzigen Affenbrotbaum fertig werden. Der Einfall mit den Elefanten brachte ihn zum Lachen.

»Man müsste sie übereinanderstellen …« Aber dann bemerkte er klugerweise: »Bevor die Affenbrotbäume groß werden, fangen sie ja erst damit an, klein zu sein.«

»Das ist schon richtig. Aber warum willst du, dass deine Schafe die kleinen Affenbrotbäume fressen?«

Er antwortete: »Schon gut! Wir werden ja sehen!« als ob es sich da um das klarste Ding der Welt handelte. Und ich musste meinen ganzen Verstand aufbieten, um der Sache auf den Grund zu kommen.

In der Tat gab es auf dem Planeten des kleinen Prinzen wie auf allen Planeten gute Gewächse und schlechte Gewächse. Infolgedessen auch gute Samenkörner von guten Gewächsen und schlechte Samenkörner von schlechten Gewächsen. Aber die Samen sind unsichtbar. Sie schlafen geheimnisvoll in der Erde, bis es einem von ihnen einfällt, aufzuwachen. Dann streckt er sich und treibt zuerst schüchtern einen entzückenden kleinen Spross zur Sonne, einen ganz harmlosen.

Wenn es sich um einen Radieschen- oder Rosentrieb handelt, kann man ihn wachsen lassen, wie er will. Aber wenn es sich um eine schädliche Pflanze handelt, muss man die Pflanze beizeiten herausreißen, sobald man erkannt hat, was für eine es ist.

Auf dem Planeten des kleinen Prinzen gab es fürchterliche Samen … und das waren die Samen der Affenbrotbäume. Der Boden des Planeten war voll davon. Aber einen Affenbrotbaum kann man, wenn man ihn zu spät angeht, nie mehr loswerden. Er bemächtigt sich des ganzen Planeten. Er durchdringt ihn mit seinen Wurzeln. Und wenn der Planet zu klein ist und die Affenbrotbäume zu zahlreich werden, sprengen sie ihn.

»Es ist eine Frage der Disziplin«, sagte mir später der kleine Prinz. »Wenn man seine Morgentoilette beendet hat, muss man sich ebenso sorgfältig an die Toilette des Planeten machen. Man muss sich regelmäßig dazu zwingen, die Sprösslinge der Affenbrotbäume auszureißen, sobald man sie von den Rosensträuchern unterscheiden kann, denen sie in der Jugend sehr ähnlich sehen. Das ist eine zwar langweilige, aber leichte Arbeit.«

Und eines Tages riet er mir, ich solle mich bemühen, eine schöne Zeichnung zustande zu bringen, damit es den Kindern bei mir daheim auch richtig in den Kopf gehe. »Wenn sie eines Tages auf die Reise gehen«, sagte er, »kann es ihnen zugute kommen. Zuweilen macht es ja wohl nichts aus, wenn man seine Arbeit auf später verschiebt. Aber wenn es sich um Affenbrotbäume handelt, führt das stets zur Katastrophe. Ich habe einen Planeten gekannt, den ein Faulpelz bewohnte. Er hatte drei Sträucher übersehen …«

Und so habe ich denn diesen Planeten nach den Angaben des kleinen Prinzen gezeichnet. Ich nehme nicht gerne den Tonfall eines Moralisten an. Aber die Gefährlichkeit der Affenbrotbäume ist so wenig bekannt, und die Gefahren, die jedem drohen, der sich auf einen Asteroiden verirrt, sind so beträchtlich, dass ich für dieses eine Mal aus meiner Zurückhaltung heraustrete.

Ich sage: Kinder, Achtung! Die Affenbrotbäume! Um meine Freunde auf eine Gefahr aufmerksam zu machen, die … unerkannt … ihnen wie mir seit langem droht, habe ich so viel an dieser Zeichnung gearbeitet. Die Lehre, die ich damit gebe, ist gewiss der Mühe wert. Ihr werdet euch vielleicht fragen: Warum enthält dieses Buch nicht noch andere, ebenso großartige Zeichnungen wie die Zeichnung von den Affenbrotbäumen?

Die Antwort ist sehr einfach: Ich habe wohl den Versuch gewagt, aber es ist mir nicht gelungen. Als ich die Affenbrotbäume zeichnete, war ich vom Gefühl der Dringlichkeit beseelt.

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Nicht den Tod sollte man fürchten, sondern dass man nie beginnen wird, zu leben.

Marcus Aurelius