04 · Möwe Jonathan · Richard Bach

04 · Möwe Jonathan · Richard Bach · Novelle

Ein Monat verging, oder vielmehr ein Zeitraum, der sich wie ein Monat ausnahm.

Jonathan lernte außerordentlich schnell. Er hatte schon sehr rasch Fortschritte gemacht, als er noch aus der praktischen Erfahrung lernte, nun aber, als Einzelschüler des Ältesten selbst verarbeitete er die neuen Ideen wie ein stromlinienförmiger, gefiederter Computer.

Doch dann kam ein Tag, an dem Chiang endgültig verschwand. Zuvor hatte er noch einmal lautlos die ganze Gemeinschaft ermahnt, niemals das Lernen aufzugeben, unentwegt weiter zu üben und danach zu streben, das vollkommene, unsichtbare Prinzip alles Lebens zu erfahren.

Dabei wurde sein Gefieder lichter und lichter, und zuletzt erstrahlte es in solchem Glanz, dass die Möwen geblendet die Augen abwenden mussten.

»Jonathan, erlerne die Liebe.« Das waren seine letzten Worte.

Als die Blendung der Augen nachließ, weilte Chiang nicht mehr unter ihnen. Und die Zeit verrann. Immer häufiger musste Jonathan jetzt an die Erde zurückdenken, von der er einst gekommen war. Hätte er dort unten nur ein Zehntel, nur ein Hundertstel von dem gekannt, was er jetzt wusste, wie viel sinnvoller wäre sein Leben gewesen.

Er stand im Sand und fragte sich, ob es dort unten vielleicht wieder eine Möwe gäbe, die ihre Grenzen zu überwinden trachtete, eine Möwe, der das Fliegen mehr bedeutete als nur Fortbewegung zu dem Ziel, ein paar Brocken Brot von einem Fischkutter zu ergattern.

Vielleicht war wieder eine Möwe in Verbannung geschickt worden, weil sie gewagt hatte, dem großen Schwarm die Wahrheit zu sagen. Und je länger Jonathan sich um Güte bemühte, je mehr er danach strebte, das Wesen der Liebe zu begreifen, desto größer wurde sein Verlangen, zur Erde zurückzukehren.

Trotz der Vereinsamung in seinem vergangenen Erdendasein war Jonathan im Grunde der geborene Lehrer. So gab es für ihn nur eine einzige Möglichkeit, der Liebe zu dienen: Er musste die von ihm erkannte Wahrheit weitergeben an eine Möwe, die auch die Sehnsucht nach Wahrheit in sich trug.

Sein Lehrer Sullivan war bereits Meister im gedankenschnellen Flug und half den anderen bei ihren Übungen. Er hatte seine Zweifel.

»Du bist früher auf der Erde ein Ausgestoßener gewesen, Jon. Wie kannst du glauben, dass dir jetzt auch nur eine Möwe aus deiner Vergangenheit zuhören würde? Du kennst doch das Sprichwort: Am weitesten sieht, wer am höchsten fliegt. Darin steckt Weisheit.

Die Möwen, von denen du abstammst, kleben am Boden und zetern und streiten miteinander. Unendlich weit sind sie vom Himmel entfernt — und da glaubst du, du kannst ihnen von ihrem Standort aus den Himmel öffnen? Sie können doch nicht einmal über ihre eigenen Flügelspitzen hinausblicken. Bleib bei uns, Jon, und hilf den Anfängern hier. Sie sind schon weiter gekommen, sie können erkennen, was du ihnen zeigen willst.«

Er schwieg einen Augenblick, dann fuhr er fort: »Wenn Chiang in seine früheren Welten zurückgekehrt wäre, wo wärst du jetzt?«

Diese Bemerkung gab den Ausschlag. Sullivan hatte recht. Am weitesten sieht, wer am höchsten fliegt. So blieb Jonathan und arbeitete mit den Neulingen, die alle klug und lernbegierig waren. Doch die alten Wünsche kehrten wieder. Immer stärker und häufiger musste er an die Erde zurückdenken und dass ihn dort vielleicht ein oder zwei Möwen als Lehrer brauchten.

Wieviel weiter wäre er selber gekommen, wäre Chiang bei ihm in der Verbannung gewesen.

»Ich muss zurück, Sully« sagte er schließlich. »Deine Schüler entwickeln sich gut. Sie können dir bei den Neulingen helfen.«

Sullivan seufzte und widersprach nicht länger »Du wirst mir sehr fehlen, Jonathan.«

»Schäm dich. Sully!« sagte Jonathan vorwurfsvoll.

»Sei nicht töricht. Was üben wir denn jeden Tag? Wäre unsere Freundschaft von Raum und Zeit abhängig, dann taugte sie nichts mehr, sobald wir Raum und Zeit hinter uns lassen. Überwinde den Raum, und alles, was uns übrig bleibt, ist Hier. Überwinde die Zeit und alles, was uns übrig bleibt ist Jetzt. Und meinst du nicht auch, dass wir uns im Jetzt und Hier begegnen könnten?«

Trotz seines Kummers wurde Sullivan wieder fröhlich. »Du komischer, du verrückter Vogel« sagte er zärtlich. »Wenn überhaupt einer den beschränkten Möwen auf der Erde Weitblick beibringen kann, dann bist du es.« Er starrte in den Sand.

»Leb wohl, Jon, mein Freund.«

»Leb wohl, Sully. Wir sehen uns wieder«

Im Geist sah er große Möwenschwärme an den Küsten einer anderen Welt und Zeit. Aus langer Übung hatte er die innere Gewissheit, dass er selbst kein Wesen aus Knochen und Federn mehr war, sondern die reine Idee des freien Fluges, der keine Grenzen kennt.

Auf der Erde lebte ein Möwenvogel, der hieß Fletcher Lynd. Er war noch sehr jung, doch hatte er schon böse Erfahrungen hinter sich und meinte, dass kein anderer je so hart von seinem Schwarm behandelt, dass niemandem je solches Unrecht angetan worden wäre.

»Mir ist es ganz gleich, was sie sagen« dachte er wütend, und ihm verschwamm alles vor den Augen, als er auf die Fernen Klippen der Verbannung zuflog.

»Fliegen ist doch wichtiger als nur von einem Ort zum nächsten zu sausen. Das kann jede Mücke! Eine kleine Rolle in der Luft rund um den Ältesten, nur so aus Spaß, und schon haben sie mich ausgestoßen. Sind sie denn blind? Können sie sich das Glück gar nicht vorstellen, was richtiges Fliegen mit sich bringt? Mir ganz gleich, was sie denken. Ich werde ihnen zeigen, was Fliegen heißt. Ich breche das Gesetz … sie wollen es ja nicht anders. Das wird ihnen noch leid tun…«

Da vernahm er eine Stimme, die aus seinem Innern zu kommen schien. Sie tönte ganz sanft und erschreckte ihn doch so sehr, dass er erstarrte und durch die Luft taumelte.

»Denk nicht so hart über sie, Möwe Fletcher Lynd. Die anderen haben sich nur selbst geschadet, als sie dich ausstießen. Eines Tages werden auch sie begreifen, eines Tages werden auch sie sehen, was du siehst. Vergib ihnen und hilf ihnen.«

Kaum einen Zoll entfernt von ihm segelte wie schwerelos und ohne eine einzige Feder zu rühren die reinste, strahlendsde Möwe der Welt. Mühelos hielt sie sein Tempo, das für ihn schon Höchstgeschwindigkeit war. Der junge Vogel war völlig verwirrt.

»Was ist das? … Träume ich? Bin ich tot? Was ist das?«

Leise und ruhig tönte die Stimme aus seinem Herzen fort und verlangte nach Antwort.

»Möwe Fletcher Lynd, willst du fliegen?«

»Ja, ich will fliegen!«

»Willst du es so sehr, dass du bereit bist, deinem Schwarm zu vergeben, da du lernen willst und nur lernen und dann zu ihnen zurückzukehren und ihnen helfen, damit auch sie verstehen?«

Diesem glorreichen, überlegenen Wesen gegenüber gab es kein Ausweichen. So sehr der junge Vogel auch noch an seinem gekränkten Stolz litt, er musste nachgeben.

»Ich bin bereit.«

»Nun« erklang es liebevoll aus dem strahlenden Wesen, «dann wollen wir mal mit dem Horizontalflug beginnen…«

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04 · Möwe Jonathan · Richard Bach · Novelle · Ein Monat verging, oder vielmehr ein Zeitraum, der sich wie ein Monat ausnahm.

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Autor: Richard Bach

Bewertung des Redakteurs:
4


Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, würde ich die gleichen Fehler machen. Aber ein bisschen früher, damit ich mehr davon habe.


Marlene Dietrich