Was heißt bürgerlich · Reinhard Baumgart

Was heißt bürgerlich · Reinhard Baumgart · Satire

Kein Zweifel, das Wort »bürgerlich« hat einen schlechten Ruf.

»Gutbürgerlich«, so nennen sich nur noch Gasthöfe, Mittagstische in der Provinz, und dort bedeutet das: keinerlei Übertreibung ist in solchen Häusern zu erwarten, weder in Preis noch in Qualität … eine letzte Erinnerung an die gute alte Zeit, an den Duft der kleinen engen Welt.

Eine »gutbürgerliche« Zigarette oder Fluglinie empfiehlt sich nirgends. Mit diesem Wort kann nichts verkauft werden, es hat keinen »appeal (Reiz)« mehr, drin sitzt der Muff.

Wer bürgerlich ist, und das sogar mit Übertreibung, der möchte doch bitte nicht mehr so genannt werden, dann das hieße ja soviel wie keinen Schwung haben, nicht dynamisch und aufgeschlossen sein oder, mit einem Wort: nicht jung, und genau das kann sich heute niemand mehr leisten.

Merkwürdig, dieser schlechte Ruf eines Wortes, das als Begriff doch auf den verwaschenen Gesamtzustand unserer Gesellschaft immer noch passt. Mindestens wie die Faust aufs Auge.

Man kann es mögen oder nicht mögen, man mag es drehen oder wenden, wie man will, diese eine Banalität steht fest: Wir leben hier in einer von oben bis unten bürgerlich eingefärbten Gesellschaft, noch, aber auf vorerst noch unabsehbare Zeit.

Dieser Klasse, dem dritten Stand der Französischen Revolution, ist es als erster in der Geschichte gelungen, die Gesellschaft nicht nur von oben zu beherrschen, sondern sie auch zu durchdringen, ihr bis weit nach unten diesen ihren Güte-Stempel »bürgerlich« aufzudrücken.

Es existieren zwar Randzonen, und es existiert sicher ein Proletariat, aber auch das möchte am liebsten nicht mehr so genannt werden und lieber bürgerlich leben. Es gibt heute nichts mehr, was es noch in den zwanziger Jahren gab, was es in Sizilien, Indien oder Mexico City heute noch gibt: eine »Kultur der Armut«, eine Alternative?

Da so alles »pluralistisch«, wie die Ideologen sagen, stärker oder blasser diese eine Farbe trägt, kann der Begriff »bürgerlich« offenbar alles und somit fast nichts meinen.

Bürgerlich wird die Subkultur bereits zum Wirtschaftsunternehmen ausgebaut, verbürgert ist die SPD, aus dem Bürgertum kamen auch die Intelligenz und die Wut der APO. Muss man denn bis nach Kuba oder bis nach Afrika reisen, um endlich ein Außerhalb zu diesem pan-bürgerlichen Kosmos zu entdecken?

Ich jedenfalls habe in den letzten Jahren nichts selbstzufrieden Bürgerlicheres gesehen als den »Schwanensee«, getanzt vom Moskauer Bolschoi-Ballett. Das muss eine wunderliche Revolution sein, die fleißig die Basis umwälzt und im Überbau versteinerte Vergangenheit genießt.

Für den, der nur auf die Basis starrt, wird freilich im Handumdrehen alles klipp und klar – er sieht auch bei uns, jedenfalls auf dem Papier, ganz messerscharfe Klassenfronten. Bürgerlich ist dann nur, wer Produktionsmittel im Besitz hält.

Mich interessieren an dieser Definition eher ihre Lücken als ihre theoretische Reinheit. Nur nach ihr dürfte sich der junge Manager zu den »lohnabhängigen Massen« zählen, ein Kiosk-Pächter dagegen wäre ein Mehrwert-Verdiener. Das alles hat bestimmt seine Logik, nur keinerlei praktische Bedeutung.

Nur dann, wenn man das Wort historisch betrachtet, verliert es seinen verschwommenen pluralistischen Glamour, dann erklärt sich auch seine Zweideutigkeit oder Verlegenheit. In ihm steckt Vergangenheit, eine schöne und eine steckengebliebene. Denn was heute so muffig oder schummerig wirkt, das hatte ja einmal fast rötlichen Glanz.

Im Interesse des Bürgertums sollte vor ein paar Jahrhunderten die Geschichte ruckhaft vorwärts bewegt werden, und bessere Parolen als Liberté, Egalité, Fraternité sind seitdem nicht ausgerufen worden.

Doch verwirklicht wurde von den Parolen nur die Gleichheit von Bürgertum und Adel (die niemanden mehr interessiert), dann die freie Welt als Welt des »free enterprise«, und vor allem: das brüderliche Angebot an alle, teilzuhaben an der bürgerlichen Kultur, an Brahms und Schwedenmöbeln und Leistungsethos mit dem dazugehörigen Ruhe- und Ordnungsbedürfnis.

Sehr brüderlich ist gerade dieses Angebot nicht. Schon das Bildungsprivileg sorgt dafür, dass für den größten Teil der Bevölkerung die String-Regale und ein Volkswagen SUV immer noch erschwinglicher sind als Strawinsky, Bergman oder Kafka. Doch gerade dort oben im bürgerlichen Überbau dämmert es seit geraumer Zeit am auffälligsten.

An der Basis sitzt man trotz drohender Mitbestimmung noch einigermaßen fest in den Positionen. Da oben aber werden immer seltener jene gutbürgerlichen Werte verkauft, mit denen innerlich ausgerüstet man vor Jahrhunderten in die Stellungen einer damals herrschenden Klasse einrückte.

Das Souterrain ist auch schon unruhig, wird noch unruhiger, der Dachboden aber ist bereits so morsch, dass man dort auf den Zusammenbruch des ganzen Hauses längst gefasst ist. Von da oben ist ja das Gerücht vom Ende des Bürgertums auch ausgegangen und hat sich gehalten trotz allem gelungenen oder halb-gelungenen »crisis management«.

Wer seine Umsätze steigen, seine Lohnempfänger konzertieren, seine Aktien haussieren sieht, kann diese Unkerei nicht ver- und nicht ausstehen. Alles klappt, aber diese Auguren sehen immer schwarz. Für sie, die aus den bürgerlichen Kulturresten weissagen, ist, was so rüstig fortlebt, schon das Ende.

Und tatsächlich: Wenn man der Geschichte des bürgerlichen Idealismus nachgeht, dieser Geschichte einer ständigen Verfinsterung, von »Kabale und Liebe« zu Becketts »Endspiel«, von Puschkin zu Tschechow, von Beethoven zu Weber, von Schelling zu Heidegger, dann muss man nicht einmal weissagen, wenn man aus Agonie aufs Ende schließt, und ist auch kaum leichtfertig, wenn man trotzdem keinen nagelneuen Anfang dagegen zu bieten hat.

An Sowjetrussland ist zwar zu lernen, dass eine Ideologie ihre Klasse überleben kann, aber dass eine Klasse den Zusammenbruch ihrer Ideologie unangefochten überdauert, das ist noch nicht vorgekommen.

Kein Wunder also, wenn Produzenten im Überbau sich am lautesten verabschieden vom Bürgertum, wenn sie schon so tun, als wäre »bürgerlich« nicht nur etwas nicht ganz zeitgemäß Schickes, sondern auch etwas ganz und gar Moribundes.

Sie übertreiben, sicher, schließlich sind sie noch Mitglieder dieser bürgerlichen Gesellschaft und höchstens utopisch, in Gedanken schon draußen. Aber sie gehen täglich mit Beweisen dafür um, dass bürgerliche Kultur ihre progressive Phase längst, aber auch ihre defensive schon lange hinter sich hat.

Wie sollten sie auf dieses abgekämpfte, wenn auch zähe Pferd noch setzen? Es ist möglich und wäre nicht das erste Mal in der Geschichte, dass eine Kulturrevolution der politischen voraus läuft.

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Was heißt bürgerlich · Reinhard Baumgart · Satire · Kein Zweifel, das Wort »bürgerlich« hat einen schlechten Ruf.

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Autor: Reinhard Baumgart

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Niemand ist nutzlos in dieser Welt, der einem anderen die Bürde leichter macht.


Charles Dickens