Schildbürger und ein Krebs

Schildbürger und ein Krebs · Ein Krebs kommt vor Gericht

Eines Tages geriet ein Krebs direkt nach Schilda. Niemand hätte sagen können, woher er kam, und keiner wusste, was er bei den Schildbürgern wollte. Und da sie noch nie in ihrem Leben einen Krebs gesehen hatten, befiehl sie eine große Aufregung.

Sie läuteten mit der neuen Kirchenglocke Sturm, stürzten zu der Stelle, wo der Krebs umher kroch, und wussten einfach nicht, was zu tun sei. Sie rieten und rätselten hin und her und hätten gar zu gerne gewusst, wen sie eigentlich vor sich hatten.

»Vielleicht ist es ein Schneider«, sagte der Bürgermeister, »denn wozu hätte er sonst zwei Scheren?« Schon holte einer ein Stück Tuch, setzte den Krebs darauf und rief: »Wenn du ein Schneider bist, dann schneide mir jetzt eine Jacke zu! Mit weiten Ärmeln und einem Halskoller!«

Weil das Tier zwar auf dem Tuch vorwärts und rückwärts einher spazierte, aber den Stoff nicht zuschnitt, nahm der Schneidermeister von Schilda seine eigene große Schere und schnitt das Tuch genauso zu, wie der Krebs dahin kroch.

Nach zehn Minuten schon war der Stoff völlig zerschnitten. Von einer Jacke mit weiten Ärmeln und einem Halskoller konnte wirklich keine Rede sein.

»Mein schönes, teures Tuch!« rief der Schildbürger. »Der Kerl hat uns angeführt! Er ist gar kein Schneider! Ich verklag‘ ihn wegen Sachbeschädigung!«

Dann griff er nach dem Krebs und wollte ihn beiseite legen. Doch der Krebs zwickte und kniff ihn mit seinen Scheren so kräftig in einen Finger, dass der Mann vor Schmerz aufbrüllte. »Mörder!« schrie er. »Mörder! Hilfe!«

Nun wurde es dem Bürgermeister zu bunt. »Erst ruiniert er das teure Tuch«, sagte er, »und nun trachtet er einem unserer Mitbürger auch noch nach dem Leben – das kann ich als Stadtoberhaupt nicht dulden! Morgen früh machen wir ihm den Prozess!«

Und so geschah es dann auch. Der Krebs wurde am nächsten Morgen in einer förmlichen Sitzung vom Richter der mutwilligen Sachbeschädigung und des versuchten Mordes angeklagt. Augenzeugen berichteten unter Eid, was sich am Vortag zugetragen hatte.

Da der amtlich bestellte Verteidiger kein entlastendes Material beibringen konnte, zog sich der hohe Gerichtshof schon nach kurzer Zeit zur Urteilsfindung zurück und verkündete anschließend folgenden harten, aber gerechten Spruch:

»Der Delinquent gilt in beiden Punkten der Anklage als überführt. Mildernde Umstände kommen um so weniger in Betracht, als der Angeklagte nicht ortsansässig ist und die ihm gewährte Gastfreundschaft übel vergolten hat. Er wird daher zum Tode verurteilt. Der Gerichtsdiener wird das Urteil umgehend ausführen und ihn ersäufen. Das Urteil gilt unwiderruflich. Die Kosten des Verfahrens trägt die städtische Sparkasse.«

Noch am gleichen Nachmittag trug der Gerichtsdiener den Krebs in einem Korb zum See hinaus und warf ihn ins Wasser. Ganz Schilda nahm an der Exekution teil. Den Frauen standen die Tränen in den Augen.

»Es hilft nichts«, sagte der Bürgermeister. »Strafe muss sein.« Der Pastor war übrigens nicht mitgekommen. Er wusste nämlich nicht, ob der Krebs katholisch oder evangelisch war.

Schildbürger und ein Krebs · Ein Krebs kommt vor Gericht · Urteil

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Autor: Erich Kästner

Bewertung des Redakteurs:
4

Wir leben in einem gefährlichen Zeitalter. Der Mensch beherrscht die Natur, bevor er gelernt hat, sich selbst zu beherrschen.

Albert Schweitzer