03 · März · Dem Frühling entgegen · Herbert Fritsche · Jahreslauf
Nie ist der Himmel so blau, sein Mond so blank und bei Tag das Licht so kraftvoll zum Blenden und Bleichen wie im März.
Aus tausend Spiegeln antwortet die Bläue dem Himmel: Tümpel und Pfuhle, Bäche und Flüsse berauschen sich an so viel Blau – und des Abends, wenn die Sterne des Winterhimmels mehr und mehr gen Westen sinken, Orion und Sirius, die Plejaden und der Aldebaran.
Wenn der Löwe über den Südhimmel zieht und Capella vom Scheitelpunkt fortgleitet im sanften Abwärtsschwung zu jenem tiefen Nordpunkt am Horizont, den sie um die Sommersonnenwende als einsames Flimmergestirn innezuhalten gedenkt, dann schwimmt der rote Märzstern Arktur, das Lenzgeschmeide im Bährenführer-Sternbild des Bootes, auf den Wasserflächen, nachdem er sich vom Ostrand des Himmels empor geatmet hat in die Vorfrühlingsnacht.
Der März hat seine besondere Tragik: er lockt, des Lenzes allzu gewiss, zahlreiche Vorläufer des jungen Jahres ins Freie: erste Falter, verfrühtes Käfervolk und manchen Frosch.
Ist das Risiko für die Kaltblüter aus Tümpel und Graben gering, weil sie beim Wetterumschlag ins Winterliche ohne viel Einbuße an Lebenskraft zurückzugleiten vermögen in das Erstarren, das die Sparkasse ihrer vitalen Prozesse ist, so müssen die Äthergeschöpfe mit den bunten Flügeln, die Falter, zugrunde gehen, wenn eisiger Wind zu wehen beginnt und kein Blumen-Nektar zur Verfügung steht.
Die sozial lebenden Insekten, die Bienen, haben den Heimweg in den Stock offen –: sie, die das Wagnis des Einzelseins dahin gaben und von ihrer Gruppenseele gegängelbandelt werden nach Maßgabe dessen, was der übergeordnete Organismus Bienenstock zu tun oder zu lassen befiehlt, sind kein Gleichnis für Kolumbusse oder Giordano Brunos.
Sieht man von denjenigen Faltern ab, die als Vollinsekt überwinterten, so kommen die Schmetterlinge des Frühjahrs aus der Puppe hervor, aus dem chitingezimmerten Insektensarg, der uns Goethes Wort vom Gleichnis-Charakter alles Vergänglichen deutlicher machen kann als jegliche sonstige Erbildung der Natur.
Die Raupe, erdnah, gefräßig und dem Wurm zum Verwechseln ähnlich, lebt als ein niederes Wesen, auf das der Sensible oft mit Ekel reagiert. Ganz zu Unrecht! In jeder Raupe steckt, wie der Märchenprinz im Frosch, ein Falter.
Wer nur das Aktuelle sieht, ist blind und dumm: erst der Blick auf das Werdeziel adelt den Wissenden.
Eine Raupe, die die Verpuppung für eine Einsargung ohne Auferstehung halten würde, wäre im Irrtum. Eine andere, die die Zeit im Sarg einfach als Raupe zu überleben hofft, irrte nicht minder. Und ein Falter, der sich nicht selber angestrengt dem Sarg entwindet, hätte kein Leben draußen in den Weiten des Luftmeeres. Der ganze Vorgang mutet wie ein Illustration zu dem alten Mystiker-Vers an:
Wer nicht stirbt,
bevor er stirbt,
der verdirbt,
wenn er stirbt …
Die ersten Falter im März können uns das lehren. Und sie können uns auch warnen vor einem zu frühen Weg in eine Wirklichkeit, die noch nicht eindeutig und ohne Rückfälle am Regiment ist. Aber dem, der über alles Individuelle hinaus voller Vertrauen auf das Tao ist, den immer im Recht befindlichen Geist der Allheit, wiegt solche Warnung leicht — und die Märztage der verfrühten Falter nimmt er statt mit Trauer mit Dankbarkeit hin.
Die Kolumbusse und die Giordano Brunos sind edler als die Schulmeister, die ihre Lehrmeinungen erst zu dozieren wagen, wenn das Weltbild, dem sie verpflichtet sind, so fest geworden ist, dass es den Wirklichkeiten schon nicht mehr entspricht.
Am 21. März halten sich Tag und Nacht die Waage, die Sonne überschreitet auf der Himmelsbahn den Frühlingspunkt. Dass dieser Frühlingspunkt, der einmal am Beginn des Tierkreiszeichens Widder lag, auf einer langsamen Wanderung über den gesamten Tierkreis hin begriffen ist, welche rund 26.000 Jahre währt, war schon den weisen Völkern der Vorzeit bekannt.
Man nannte diese Zeitspanne das große oder das Platonische Jahr und ordnete dem Weg des Frühlingspunktes durch ein Tierkreiszeichen von 30 Graden, also einer Zeitspanne von rund 2.100 Jahren, die Bedeutung eines Weltzeitalters zu, das im wesentlichen von den kosmischen Kräften seine Signaturen empfängt, die dem Tierkreiszeichen entsprechen, in dem der Frühlingspunkt sich dann befindet.
So driftete vor kurzem der Frühlingspunkt aus dem Zeichen der Fische, das uns zwei Jahrtausende hindurch das Antlitz der Welt bestimmte, in das des Wassermann. Somit befinden wir uns jetzt in einer Zeit des Umbruchs, der Bewusstseinswende, der wankenden Wirklichkeit.
So wie wir von der Mikrophysik her, die saltomortalartige Korrektur unserer gesamten naturwissenschaftlichen Grundbegriffe geliefert bekamen, ist auch sonst, im Sozialen, im Religiösen, im Menschheitlichen, eine Neuwerdung am Werk, die wie der Aequinoktialsturm (Äquinoktium) daherbraust, der Sturm um die Tage der Tag- und Nachtgleiche.
Ist es richtig, Ach und Weh zu schreien oder Weltuntergänge zu beklagen? Oder ist es richtig, die große Befreiung zu begrüßen, die dem Werden des jüngeren und echteren Lebens, dem Lenz und dem Licht die Wege bahnt um einer Saat willen, zu der wir selber gehören mit Haut und Haar? Und müssen wir nicht auch hier vom Falter lernen, der nur dann sein Recht auf freien Flug in die Weiten erworben hat, wenn er sich aus der Umklammerung des Puppensarges mit eigener Kraft löste?
Die Stürme, die dem neuen Zeitalter vorangehen, meinen ebensowenig wie die Stürme des März das Verderben, sondern den Sonnensieg.
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Autor: Herbert Fritsche
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Liebe heißt Bewusstsein meiner Einheit mit einem anderen.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel