Der Uhrmacher · Gustav Meyrink · Prag · Fiktion Abraxas
»Die? Richten? Damit sie wieder geht?« fragte der Antiquar erstaunt, schob seine Brille auf die Stirn und blickte mich verdutzt an; »warum wollen Sie eigentlich, dass sie wieder geht? Sie hat doch nur einen einzigen Zeiger … und keine Ziffern auf dem Weiserblatt«, setzte er hinzu, die Uhr beim grellen Schein der Lampe versonnen betrachtend, »nur Blumengesichter, Tier- und Dämonenköpfe statt der Stunden.«
Er begann zu zählen, sah mich fragend an: »Vierzehn? Man teilt den Tag doch in zwölf Teile ein. Hab’ noch nie ein so seltsames Werk gesehen. Ich rate Ihnen, lassen Sie sie wie sie ist. Schon zwölf Stunden im Tag sind schwer genug zu ertragen. Von diesem Zifferblatt die richtige Zeit abzulesen? Wer gäbe sich heute die Mühe. Nur ein Narr.«
Ich wollte nicht sagen, dass ich ein Menschenleben lang ein solcher Narr gewesen war, nie eine andere Uhr besessen hatte, vielleicht deshalb sehr oft zu früh gekommen war, wo ich hätte warten sollen – und schwieg.
Der Antiquar schloss daraus, ich wolle auf meinem Wunsch beharren, sie wieder gehen zu sehen, schüttelte den Kopf, nahm ein kleines Elfenbeinmesser und öffnete behutsam das edelsteinverzierte Gehäuse, darauf in Email ein Fabelwesen gemalt war, auf einer Quadriga stehend: ein Mann mit Frauenbrüsten, zwei Schlangen statt der Beine, einem Hahnenkopf und in der rechten Hand die Sonne, in der linken eine Peitsche.
»Vermutlich ein altes Familienstück«, riet der Antiquar. »Erwähnten Sie nicht vorhin, sie sei diese Nacht stehengeblieben ? Um zwei Uhr? Der kleine rote Büffelkopf mit den beiden Hörnern bedeutet doch wohl die zweite Stunde?«
Ich war mir nicht bewusst, etwas derartiges gesagt zu haben, aber tatsächlich war die Uhr in der vergangenen Nacht um zwei stehen geblieben. Mag sein, ich hatte davon gesprochen, jedoch: ich konnte mich nicht erinnern, ich fühlte mich noch zu angegriffen – ich hatte um dieselbe Zeit einen schweren Herzkrampf gehabt und geglaubt, ich müsse sterben.
Im Wanken meines Bewusstseins hatte ich mich noch an den Gedanken geklammert: wenn nur die Uhr nicht stehen bleibt. Im Dämmer meiner schwindenden Sinne musste ich Herz und Uhr in den Begriffen verwechselt haben. Vielleicht denken Sterbende ähnlich. Vielleicht bleiben aus diesem Grunde so oft die Uhren in den Todesstunden der Menschen stehen? Wir kennen die magischen Kräfte nicht, die bisweilen einem Gedanken innewohnen.
»Es ist merkwürdig«, sagte der Antiquar nach einer Weile, hielt sein Vergrößerungsglas in die Nähe der Lampe, so dass der blendende Brennpunkt scharf auf die Uhr fiel, und wies mir eingravierte Buchstaben auf dem inneren goldenen Deckel. Ich las: summa scientia nihil scire.
»Es ist merkwürdig«, wiederholte der Antiquar, »diese Uhr ist ein Werk des Wahnsinnigen, ist in unserer Stadt gemacht worden. Ich glaube nicht zu irren. Es gibt nur sehr wenig solcher Stücke. Ich hätte nie gedacht, dass sie wirklich gehen könnte. Hab sie für Spielerei gehalten. Eine kleine Marotte von ihm, in alle seine Uhren die Devise zu schreiben: Höchstes Wissen, nichts zu wissen.«
Ich begriff nicht recht, was er meinte; wer mochte der »Wahnsinnige« sein, von dem er sprach? Die Uhr war sehr alt, sie stammte von meinem Großvater, aber was der Antiquar soeben gesagt, hatte doch geklungen, als lebe der »Wahnsinnige«, aus dessen Hand sie hervorgegangen sein sollte, noch heute!
Ehe ich fragen konnte, sah ich im Geiste – deutlicher und schärfer, als ging er durchs Zimmer – einen Mann durch eine Winterlandschaft schreiten, einen schlanken hochgewachsenen Greis, ohne Hut, mit vollem, im Wind wehenden schneeweißem Haar, der Kopf sonderbar klein in Kontrast zu der ragenden Gestalt, das scharfgeschnittene Gesicht bartlos, die Augen schwarz, fanatisch blickend und dicht beieinander stehend, wie die eines Raubvogels. In einem langen, verschabten, verschossenen Mantel aus Samt, wie ihn einst die Nürnberger Patrizier trugen, schritt er einher.
»Ganz recht«, murmelte der Antiquar und nickte zerstreut, »ganz recht?« dachte ich bei mir. »Es ist ein Zufall«, wusste ich sofort; »leere Worte sind’s, nichts weiter. Ich habe doch den Mund gar nicht aufgetan. Er hat dies , ganz recht’ nur gebraucht, wie es so oft geschieht, wenn man einen soeben gesprochenen Satz bekräftigen will; es hat keinen Bezug auf den alten Mann, den ich als Erinnerungsbild gesehen habe, keinen Bezug auf den – Wahnsinnigen!
Als ich, ein kleiner Junge damals noch, in die Schule ging, musste ich immer an einer langen, kahlen, mannshohen Mauer vorbei, die einen Park von Ulmen umschloss. Jahre hindurch, Tag für Tag war mein Gehen zum Laufen geworden, wenn mich der Weg daran entlang führte, denn jedes Mal packte mich eine unbestimmte Furcht.
Vielleicht – ich weiß es heute nicht mehr – weil ich mir einbildete – oder gehört hatte – ein Wahnsinniger zuhause darin, ein Uhrmacher, der behauptete, Uhren seien lebendige Wesen …… oder irrte ich mich?
Wäre es eine Erinnerung an ein Erlebnis aus meiner Schulzeit, wie konnte es sein, dass etwas, was ich wohl tausendmal gefühlt, bis zum heutigen Tag in meinem Gedächtnis schlummernd gelegen hatte, um jetzt erst mit solcher Lebendigkeit aufzubrechen?….. Freilich, wohl vierzig Jahre waren seitdem vergangen; aber gab das eine Erklärung?«
»Vielleicht habe ich es in der Zeit erlebt, die meine Uhr mehr zeigte als eine gewöhnliche!« sagte ich belustigt. Der Antiquar blickte befremdet auf und starrte mich verständnislos an.
Ich grübelte weiter und kam zur Gewissheit: die Mauer, die den Park umschließt, steht heute noch. Wem hätte daran gelegen sein können, sie einzureißen? Damals hat es doch geheißen, sie sei die Grundmauer einer Kirche, die später zu Ende gebaut werden sollte. So etwas zerstört man nicht!
Vielleicht lebte auch der Uhrmacher noch? Sicherlich würde er meine Uhr, die ich so liebte, wieder richten können. Wenn ich nur wüsste, wann und wo ich ihm begegnet war? Es konnte vor kurzer Zeit unmöglich gewesen sein, denn jetzt war Sommer, und in der Erinnerung – soeben – hatte ich sein Bild in der Winterlandschaft im Geiste gesehen!
Zu tief in Gedanken versunken, als dass ich der langen Erzählung hätte folgen können, in der sich, mit einem Male redselig geworden, der Antiquar erging, vernahm ich nur in Pausen einige abgerissene Sätze.
Sie rauschten auf mich zu, verstummten und kamen wieder, wie brandende Wellen; dazwischen das Sausen in den Ohren; das Brausen des Blutes, das der alternde Mensch vernimmt, wenn er lauscht, und nur im Lärm des Tages vergisst; – das unablässig, drohende, ferne Sausen des aus den Schlünden der Zeit her langsam sich nähernden Geiers, Tod,…..
Ich wusste kaum: war er es, der da, die Uhr in der Hand, zu mir sprach, oder war es der Mund jenes Wesens in mir, das zuweilen aufwacht in einem einsamen Herzen, wenn man verschlossene Schreine berührt, welche die vergessenen Erinnerungen heimlich behüten, damit sie nicht zu Moder verfallen?
Manchmal ertappte ich mich dabei, wie ich dem Antiquar zunickte und dann wusste ich: er hat etwas gesagt, was mir bekannt gewesen war, aber wollte ich mir die Worte überlegen, so gelang es mir nicht, sie glitten nicht, wie es sonst gesprochene Worte tun, in nahe Vergangenheit hinab, aus der ich sie zurück fangen und mit dem Verstehen hätte betasten können, nein, sie erstarrten zu leblosen Gestalten, dem Ohr fremd und unfassbar, kaum, dass ihr Klang erloschen war.
Ich begriff ihren Sinn nicht mehr; sie hatten sich aus dem Reich der Zeit in das Reich des Raumes verirrt und umstanden mich als tote Maske.
»Wenn doch die Uhr wieder gehen wollte!« sagte ich laut in meiner Qual mitten hinein in die Rede des Händlers. Ich hatte damit mein Herz gemeint, denn ich fühlte, es wollte vergessen zu schlagen, und mir graute bei dem Gedanken, der Zeiger meines Lebens könnte plötzlich stehen bleiben vor einer phantastischen Blume, dem Gesicht eines Tieres oder eines Dämonen, wie der Weiser auf jenem Zifferblatt mit den vierzehn Stunden. Ewig gebannt wäre ich in geronnener Zeit.
Der Antiquar gab mir die Uhr zurück – er glaubte wohl, ich spräche von ihr.
Als ich durch die verödeten nächtlichen Gassen schritt, geradeaus, dann kreuz und quer über schlafende Plätze und an träumenden Häusern vorbei, von blinkenden Laternen geleitet und doch meines Weges gewiss, da musste ich denken, der Antiquar habe mir anvertraut, wo der Uhrmacher ohne Namen wohne, wo ich ihn finden würde und wo die Mauer stünde, die den Ulmenpark umschließt.
Hatte er denn nicht gesagt, nur der Alte könnte meine Uhr wieder gesund machen? Woher wüsste ich es sonst: auch den Weg zu ihm musste er mir geschildert haben, und hatte ich selbst mir ihn auch nicht gemerkt – meine Füße schienen ihn genau zu wissen: sie führten mich hinaus aus der Stadt auf die weiße Straße, die zwischen sommerhauchenden Wiesen hinein in die Unendlichkeit lief.
An meine Fersen geheftet, glitten die schwarzen Schlangen hinter mir drein, die das grelle Mondlicht aus der Erde gelockt hatte. Waren sie es, die mir die vergifteten Gedanken schickten: Du wirst ihn nimmermehr finden, er ist vor hundert Jahren gestorben!
Um ihnen zu entrinnen, bog ich scharf ab nach links in einen Seitenpfad, und da tauchte auch schon mein Schatten aus dem Boden und schluckte sie in sich ein. Er ist gekommen mich zu führen, begriff ich, und es war mir eine tiefe Beruhigung, ihn so unbeirrbar und, ohne zu wanken, schreiten zu sehen; beständig blickte ich auf ihn hin, froh, des Weges nicht achten zu müssen.
Allmählich kam jenes unbeschreiblich seltsame Gefühl wieder über mich, das ich als Kind gehabt, wenn ich für mich allein das Spiel spielte: mit geschlossenen Augen festen Schrittes vor mich hin zu gehen, unbekümmert, ob ich fallen würde oder nicht: — es ist wie ein Losreißen des Körpers von aller irdischen Furcht — wie ein Jauchzen des Inneren, wie ein Wiederfinden des unsterblichen Ichs, das da weiß, mir kann nichts geschehen!
Da ließ der Erbfeind von mir ab, den der Mensch in sich trägt: der nüchterne, kalte Verstand, und mit ihm der letzte Zweifel, ich würde den, den ich suchte, nicht finden. Dann, nach langer Wanderung, eilte mein Schatten auf einen breiten, tiefen Graben – entlang der Straße – zu, schwand hinab und ließ mich allein; ich wusste: jetzt bin ich am Ziel. Warum hätte er mich sonst verlassen!
Die Uhr in der Hand stand ich in der Stube dessen, von dem ich wusste, nur er allein kann sie wieder in Gang bringen. Er saß vor einem kleinen Ahorntisch und blickte durch eine Lupe, die an einem Kopfband vor seinem Auge befestigt war, regungslos auf ein glitzerndes winziges Ding auf dem hellgemaserten Holz.
Hinter ihm an weißer Wand – im Kreis geordnet, wie ein großes Zifferblatt stand in verschnörkelter Schrift der Satz: summa scientia nihil scire. Ich atmete tief auf: hier bin ich geborgen!….
Der Bannspruch hält alles verhasste Denkensmüssen fern, jegliches Rechenschaftsfordern: wie bist du herein gekommen, durch die Mauer, durch den Park?
Auf einem Bord, bezogen mit rotem Samt, liegen Uhren: wohl an die hundert – aus blauem, aus grünem, aus gelbem Email – juwelengeschmückt, graviert, gerippt, glatte und geperlte, manche flach, manche bauchig wie Eier. Ich höre sie nicht: sie zirpen zu leise, aber: die Luft, die über ihnen schwebt, muss lebendig sein, von dem unmerklichen Geräusch das sie erzeugen. Vielleicht rast dort der Sturm eines Zwergenreichs.
Auf einem Postament steht ein kleiner Felsen aus fleischfarbenem Feldspat, geädert, bunte Blumen aus Halbedelstein wachsen daraus: mitten unter ihnen, als plane er nichts Böses, wartet der Knochenmann mit der Sense, sie abzumähen: eine ‚Tödleinsuhr‘ aus romantischem Mittelalter. Wenn er mäht, dann schlägt er mit dem Griff seiner Sense auf die feine Glasglocke, die neben ihm steht, halb Seifenblase, halb wie der Hut eines großen Märchenpilzes.
Das Weiserblatt darunter ist der Eingang zu einer Höhle, darin Zahnräder starren. Bis hinauf zur Decke des Zimmers, links und rechts sind die Wände mit Uhren behängt, mit Uhren: alte mit stolzen ziselierten Gesichtern, kostbar und reich, gelassen die Perpendikel schwingend, predigen sie mit tiefem Bass ihr ruhevolles Tack-Tack.
In der Ecke steht eine Uhr in gläsernem Sarg, ein aufrechtstehendes Schneewittchen, tut, als schliefe es, aber ein leises rhythmisches Zucken mit dem Minutenzeiger verrät, dass es die Zeit nicht aus dem Auge lässt.
Andere, nervöse Rokokodämchen – das Schönheitspflästerchen als Schlüsselloch – sind mit Zierrat überladen und ganz außer Atem, so trippeln sie sich ab, einander den Rang abzulaufen, und den Sekunden zuvor zu kommen. Daneben die winzigen Pagen, sie kichern dazu und hetzen: Zick – Zick, Zick.
Dann eine lange Reihe Uhren, strotzend, in Stahl, Silber und Gold – wie schwergeharnischte Ritter; sie scheinen bezecht zu sein und zu schlummern, denn bisweilen schnarchen sie laut auf oder rasseln mit ihren Ketten, als ob sie mit dem Gott Kronos selbst einen Streit auszufechten gedächten, wenn sie aus ihrem Rausch erwachen.
Auf einem Sims sägt ein Holzknecht mit Mahagonihosen und funkelnder Kupfernase die Zeit entzwei in Sägespäne….
Worte des Alten rissen mich aus meiner Beschaulichkeit: »Alle sind krank gewesen, ich habe sie wieder gesund gemacht.« Ich hatte seiner so gänzlich vergessen, dass ich zuerst glaubte, es sei das Schlagen einer der Uhren gewesen.
Die Lupe an dem Kopfband saß, empor geschoben, jetzt an der Mitte seiner Stirn – wie das dritte Auge des Schiwa – und ein Funke glomm darin: Widerschein der Ampel an der Decke. Er nickte mir zu und hielt meinen Blick mit dem seinigen fest.
»Ja, krank sind sie gewesen; sie haben gedacht sie könnten ihr Schicksal ändern, wenn sie schneller gehen oder langsamer. Sie hatten ihr Glück verloren an den Dünkel, sie seien die Herren der Zeit. Ich habe sie von diesem Wahn befreit und ihnen die Ruhe ihres Lebens wiedergegeben.«
»So mancher findet, wie du, in den Nächten des Mondes im Schlaf den Weg aus der Stadt heraus zu mir, bringt mir seine kranke Uhr, klagt und bittet, ich solle sie heilen, aber am nächsten Morgen hat er alles wieder vergessen – auch meine Arznei.«
»Nur die, die den Sinn meines Wahlspruches erfassen«, er deutet über die Schulter auf den Satz an der Wand, »nur die lassen die Uhren hier in meiner Obhut.«
Ich ahnte dunkel: in dem Bannspruch lag noch ein Geheimnis verborgen. Ich wollte fragen, aber der Greis hob drohend die Hand: »Nicht wissen wollen! Lebendiges Wissen kommt von selbst! Dreiundzwanzig Buchstaben hat der Satz; sie stehen als Ziffern auf dem Weiserblatt der großen unsichtbaren Uhr, die eine Stunde weniger zeigt als die Uhren der Sterblichen, aus deren Rund es kein Entrinnen gibt«
»Darum spotten die Verständigen:– sieh da! der Wahnsinn! – sie höhnen, sie sehen die Warnung nicht: Lass dich nicht fangen von der Kreisschlinge Zeit! – sie lassen sich führen vom tückischen Zeiger Verstand, der ewig neue Stunden verspricht und immer nur alte Enttäuschungen bringt.«
Der Alte schwieg. Ich reichte ihm mit stummer Bitte meine tote Uhr hin. Er nahm sie mit seiner schönen schmalen weißen Hand und lächelte kaum merklich, als er sie geöffnet und einen Blick hinein geworfen hatte. Behutsam tastete er mit einer Nadel in das Räderwerk und nahm die Lupe wieder vor.
Ich fühlte ein gütiges Auge spähte mir ins Herz hinein. Nachdenklich betrachtete ich sein ruhevolles Gesicht. Wie habe ich mich nur – als Kind – so vor ihm fürchten können, fragte ich mich.
Dann fasste mich ängstlicher Schrecken an: er, auf den ich doch hoffe und vertraue, ist nicht wirklich – jetzt, jetzt wird er verschwinden! Nein, zum Glück: nur das Licht der Ampel hatte geflackert und meine Augen zu täuschen versucht.
Und wieder starre ich ihn an und grübelte: heute zum ersten Male hab ich ihn gesehen! Das kann nicht sein! Wir kennen uns doch seit….?
Da durchzuckte mich Erinnerung wie ein heller Blitz: niemals war ich als Schulbub an einer weißen Mauer entlang gelaufen; niemals hatte ich mich vor einem wahnsinnigen Uhrmacher gefürchtet, der hinter ihr hausen sollte; das leere, mir unverständliche Wort »wahnsinnig« war’s gewesen, das mich geschreckt hatte in frühester Jugend, als man mir drohte, ich würde »es« werden, wenn ich nicht bald zu Verstand käme.
Aber, der Greis da – vor mir -, wer war es? Auch das glaubte ich zu wissen: ein Bild – ein Bild, kein Mensch! Was konnte es anders sein! Ein Bild, das – eine Schattenknospe meiner Seele – in mir heimlich gewachsen war; ein Samenkorn, hatte es Wurzel gefangen, als ich zu Beginn meines Lebens in einem kleinen weißen Bett lag, an der Hand gehalten von der alten Kinderfrau, und ihre eintönigen Worte in den Schlaf hinüber nahm…. ja, wie hatten sie nur gelautet? Wie hatten sie nur gelautet?…
Bitterkeit stieg mir in die Kehle, brennende Trauer: so war also doch alles haltloser Schein hier rings um mich! Vielleicht nur eine Minute noch und ich stehe – ein erwachter Schlafwandler – draußen im Mondlicht und muss wieder heimwärts wandern zu den verstandesbesessenen geschäftigen Lebenden – Toten in der Stadt!
»Gleich, gleich ist’s vorüber!« hörte ich des Uhrmachers beruhigende Stimme, aber es gab mir keinen Trost; denn mein Glaube an ihn war aus meiner Brust genommen. Wie haben die Worte der Kindesfrau gelautet? – wollte, wollte, wollte ich wissen… — Langsam, langsam tauchten sie mir wieder auf – Silbe für Silbe: »Bleibt in der Brust das Herz dir stehen, bring’s ihm nur; jede Uhr macht er wieder das sie geht.«
»Da hat sie recht gehabt«, sagte der Uhrmacher gelassen, legt die Nadel aus der Hand, und im Nu zerstoben meine düsteren Gedanken. Er stand auf und hielt die Uhr fest an mein Ohr; ich hörte, sie ging – regelmäßig und genau im Takt mit dem Pulsschlag meines Blutes.
Ich wollte ihm danken – fand die Worte nicht, erstickt von Freude und von – Scham, an ihm gezweifelt zu haben.
»Gräm dich nicht!«, tröstet er, »es war nicht deine Schuld. Hab ein kleines Rad herausgenommen und wieder eingesetzt. Uhren wie diese sind sehr empfindlich, sie vertragen bisweilen die zweite Stunde nicht!«
»Hier! Nimm sie wieder, aber verrate niemand, dass sie geht! Man würde dich sonst nur verhöhnen und dir zu Schaden trachten. Sie hat dir von Jugend an zu eigen gehört, und du hast an die Stunden geglaubt, die sie zeigt: vierzehn statt eins bis – Mitternacht, sieben statt sechs, Sonntag statt Werktag, Bilder statt toter Zahlen!«
»Bleib ihr weiter treu, doch sage es niemand! Nichts ist dümmer, als ein eitler Märtyrer zu sein! Trage sie verborgen am Herzen, und in der Tasche trage eine der bürgerlichen Uhren, der staatlich geeichten, mit dem braven schwarzweißen Zifferblatt, damit du auch immer nachsehen kannst, wie spät es für die anderen ist.«
»Und lass dich nie vergiften vom Pesthauch der Zweiten Stunde! Tödlich ist sie wie ihre elf Schwestern. Rot fängt sie an, verheißungsvoll wie Morgenrot, schnell wird sie rot wie Feuersbrunst und Blut. Die Stunde des Ochsen nennen sie die alten Völker des Ostens. Jahrhunderte versinken, und friedlich läuft sie ab: der Ochs pflügt.«
»Aber plötzlich – über Nacht – werden die Ochsen zu brüllenden Büffeln, gehetzt vom Dämon mit dem Stierkopf, und zertrampeln in blinder, viehischer Wut die Fluren; dann: lernen sie wieder ackern; die bürgerliche Uhr geht ihren alten Gang, – doch den Weg aus dem Bannkreis des Menschentieres weisen auch ihre Zeiger nicht. Trächtig sind alle ihre Stunden- jede mit einem anderen Ideal -, aber was zur Welt kommt, ist ein Wechselbalg.
Deine Uhr ist stehen geblieben um zwei, um die Stunde der Vernichtung; an ihr ist sie gnädig vorbeigegangen. Andere sterben daran und verirren sich ins Reich des Todes. Sie hat den Weg zu mir gefunden – zu dem, aus dessen Händen sie hervorgegangen ist. Das dankt sie dir! Sie konnte es nur, weil du sie ein Leben lang liebevoll behütet und nie Ärgernis genommen hast an ihr, dass ihre Zeit nicht die der Erde ist.«
Er geleitet mich zur Tür, gab mir die Hand zum Abschied und sagte: »Vor einer Weile hast du gezweifelt, ob ich lebe. Glaube mir: ich bin lebendiger als du! Du kennst jetzt genau den Weg zu mir. Bald sehen wir uns wieder; vielleicht kann ich lehren, wie man kranke Uhren gesund macht. Dann« – er deutete auf seinen Wahlspruch auf seiner Wand -, »dann mag der Satz sich schließen für Dich zur Vollendung«
nihil scire … omnia posse · Nichts wissen … alles können
Der Uhrmacher · Gustav Meyrink · Prag · Fiktion Abraxas
Der Uhrmacher · Gustav Meyrink · AVENTIN Storys
Der Uhrmacher · Gustav Meyrink · Prag · Fiktion Abraxas · »Die? Richten? Damit sie wieder geht?« fragte der Antiquar erstaunt.
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Autor: Gustav Meyrink
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Manche Leute wären frei, wenn sie zu dem Bewusstsein ihrer Freiheit kommen könnten.
Marie von Ebner-Eschenbach