06 · Möwe Jonathan · Richard Bach

06 · Möwe Jonathan · Richard Bach · Novelle

Genau eine Woche später geschah etwas. Fletcher demonstrierte vor neuen Schülern die Grundsätze des pfeilschnellen Fluges.

Er hatte sich nach einem rasenden Sturzflug elegant abgefangen, schoss ein paar Zentimeter über dem Sand waagrecht dahin. Es war, als zeichne er einen grauen Strich in die Luft.

Da geriet ihm ein junger Vogel direkt in die Flugbahn. Es war sein erster Gleitflug, jämmerlich schrie er nach seiner Mutter. Ein Zusammenstoß schien unvermeidlich.

Im Bruchteil einer Sekunde verriss Fletcher scharf nach links und prallte mit höchster Geschwindigkeit gegen eine Klippe aus Granit. Er empfand keinen Schmerz. Es war, als sei der Felsen ein gewaltiges ehernes Tor zu einer anderen Welt.

Er ertrank in einer Woge aus Entsetzen und Schrecken, alles wurde schwarz, dann fand er sich in einem sehr seltsamen Himmel treibend und vergaß, was geschehen war, und
erinnerte sich und vergaß, betrübt und bang und traurig und voll Reue.

Und da ertönte wieder die Stimme in ihm und neben ihm wie an jenem ersten Tag, da er Jonathan begegnet war.

»Wir müssen versuchen, unsere Grenzen in der rechten Ordnung geduldig zu überwinden. Einen Felsen zu durchfliegen, das ist noch zu früh, das ist ein späterer Lehrstoff.«

»Jonathan.«

»Jawohl, angeblich der Göttliche« erwiderte sein Lehrer trocken.

»Was machst du hier? Die Klippe? Bin ich nicht eben.. .bin ich nicht tot?«

»Ach, du närrischer Vogel. Denk nach. Wenn du jetzt mit mir reden kannst, bist du doch nicht tot. Was dir da eben geglückt ist, ist nur ein Wechsel der Bewusstseinsebene. Allerdings ziemlich heftig. Jetzt darfst du wählen. Du kannst bleiben und auf dieser Ebene weiterlernen, die beträchtlich höher ist als die frühere, oder du kannst zurückkehren und bei deinem Schwarm weiter lehren. Die Ältesten haben immer gewartet, dass es ein Unglück geben würde, jetzt sind sie zufrieden, dass du ihnen den Gefallen getan hast.«

»Ich will zurück zum Schwarm, selbstverständlich. Ich habe doch mit der neuen Gruppe eben erst angefangen.«

»Sehr gut, mein Sohn. Denk daran, was du gelernt hast: Der Körper ist nur der personifizierte Gedanke …«

Fletcher schüttelte verwirrt den Kopf, spannte die Flügel aus und öffnete die Augen. Und er befand sich wieder am Fuß der Klippe. Um ihn hatte sich der Schwarm versammelt. Als er sich bewegte, lief ein gewaltiges Getöse aus Krächzen und Kreischen durch die Menge.

»Er lebt! Er, der schon tot war … lebt!«

»Der Göttliche hat ihn nur mit der Flügelspitze berührt. Er hat ihn zum Leben erweckt.«

»Nein. Er leugnet seine göttliche Herkunft. Er ist der Teufel. Der Teufel, der die Gemeinschaft des Schwarms zerbrechen will.«

Die Masse der Möwen fürchtete sich wegen der Dinge, die sich zugetragen hatten. Der Schrei Teufel lief wie ein Wind durch die Menge, brauste wie der Sturmwind vom Meer, Augen starrten glasig, scharfe Schnäbel rückten enger zusammen. Mord drohte.

»Möchtest du fort, mein Sohn?« fragte Jonathan.

»Ja, es wäre wohl besser.«

Im selben Augenblick schwebten sie beide eine halbe Meile weit entfernt, und die scharfen Schnäbel des Pöbels stachen ins Leere.

»Warum ist es nur so furchtbar schwer, einen Vogel von seiner Freiheit zu überzeugen?« sagte Jonathan sinnend.

»Jeder ist frei und kann seine Freiheit nutzen — er muß sie nur üben. Ist das denn wirklich so schwierig?«

Fletcher blinzelte, noch schwindlig vom raschen Wechsel der Umgebung.

»Was hast du jetzt gemacht? Wie sind wir hierher gekommen?«

»Du wolltest doch weg von diesem mordlustigen Pöbel?«

»Gewiß, aber wie hast du…«

»Wie? Genauso wie alles andere auch, Fletcher. Es ist Übung.«

Im Laufe des Morgens vergaß der Schwarm seine Tollheit wieder, doch Fletcher nicht.

»Jonathan, erinnerst du dich, was du mir vor sehr langer Zeit einmal gesagt hast — dass man den Schwarm so sehr lieben muss, dass man zurückkehrt und ihm hilft?«

»Sicher.«

»Ich begreife nicht, wie du einen Mob lieben kannst, der eben noch versucht hat, dich umzubringen.«

»Oh, Fletcher, den Mob liebt man nicht! Man liebt nicht den Hass und das Böse, natürlich nicht. Du bist noch unerfahren, du musst dich ständig bemühen, die wahre Möwe, den guten Kern in jeder einzelnen von ihnen, zu erkennen. Du musst ihnen helfen, sich selbst zu sehen. Das meine ich mit Liebe. Hat man sie gefunden, dann macht alles Freude.«

»Ich kannte einmal einen wilden jungen Vogel, der hieß Fletcher Lynd. Er war ausgestoßen aus seinem Schwarm, und er hasste seine Artgenossen deswegen und wollte sie bis auf den Tod bekämpfen. Und genau damit schuf er sich seine eigene bittere Hölle draußen auf den fernen Klippen. Und heute ist er hier und ist dabei, sich seinen eigenen Himmel zu erbauen, weil er seinen Schwarm auf den richtigen Weg führen will.«

Fletcher sah seinen Lehrer an. In seinen Augen blitzte sekundenlang die Angst auf.

»Ich — sie führen? Was meinst du damit, dass ich sie führen soll? Du bist hier der Lehrer. Du könntest sie nicht verlassen.«

»Könnte ich nicht? Zahllose Schwärme gibt es und zahllose ruppige Möwen wie einst jener Fletcher. Meinst du nicht auch, dass sie mich mehr brauchen als diese da, die schon unterwegs sind zum Licht?«

»Aber ich? Jon, ich bin nur eine gewöhnliche Möwe, du…«

»Bist ein Göttlicher, willst du sagen?« Jonathan seufzte und sah über das Meer hinaus.

»Du brauchst mich nicht mehr. Was du brauchst, ist Selbstvertrauen. Finde zu dir selbst täglich ein wenig mehr. Finde die wahre, unbegrenzt freie Möwe Fletcher. Sie wird dein Lehrer sein.« Und Jonathans Körper flimmerte in der Luft, erstrahlte und wurde durchsichtig.

»Lass nicht zu, dass sie dumme Gerüchte über mich verbreiten oder mich zum Gott erklären. Ich bin nur eine Möwe. Ich liebe das Fliegen, vielleicht…«

»Jonathan!«

»Mein armer Sohn. Trau deinen Augen nicht. Was immer sie dir zeigen, es ist nur Begrenztheit. Trau deinem Verstand, hebe ins Bewusstsein, was in dir ist, und du wirst wissen und fliegen.«

Der Strahlenglanz erlosch. Die Möwe Jonathan hatte sich in Luft aufgelöst. Und ihr Schüler flog schwerfällig auf, wandte sich unter grauem Himmel heimwärts und nahm seine Pflicht bei neuen Schülern auf, die begierig auf ihre erste Lehrstunde warteten. Ernst und bedrückt begann er.

»Ihr müsst vor allem verstehen, dass die Möwe die absolute Idee der Freiheit ist, das Abbild der Großen Möwe. Und der Körper ist von Flügelspitze zu Flügelspitze nichts weiter als der Gedanke selbst.«

Die jungen Möwen blickten ihn unsicher an. Hallo, dachten sie, das klingt aber gar nicht nach Flugregeln. Fletcher seufzte und wollte noch einmal von vorn anfangen.

»Ja — na schön«, sagte er plötzlich und musterte sie kritisch.

»Fangen wir mit dem Tiefflug an.« Und indem er das sagte, begriff er urplötzlich, dass sein Freund wahrhaftig nicht um ein Haar göttlicher gewesen war als er selbst. Keine Grenzen, Jonathan, dachte er. Die Zeit ist nicht mehr fern, da auch ich aus der durchsichtigen Luft heraus auf deinem Strand erscheinen und dir zeigen kann, was Fliegen in Freiheit bedeutet. Und obwohl er sich vor seinen Schülern streng gab, sah er sie plötzlich alle so, wie sie wirklich waren.

Und was er in ihnen sah, erfüllte ihn über Anerkennung hinaus mit tiefer Liebe. Grenzenlos. Jonathan, dachte er und war glücklich. Der Weg zur Erkenntnis war beschritten, der Kampf in ständigem Lernen hatte begonnen.

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Autor: Richard Bach

Bewertung des Redakteurs:
4


Das Leben ist wundervoll. Es gibt Augenblicke, da möchte man sterben. Aber dann geschieht etwas Neues, und man glaubt, man sei im Himmel.


Edith Piaf