Zeus und das Pferd

Zeus und das Pferd · Fabel Arroganz · Gotthold Ephraim Lessing

Von allen Tieren, die Zeus erschaffen hatte, nannte man das Pferd das schönste. Und da man es so oft sagte, glaubte das Pferd es auch selber und bewunderte sich, wenn es in schnellem Lauf dahingaloppierte, freute sich an der Kraft seiner Beine, schüttelte voller Lust seine Mähne und hielt den Kopf stets stolz erhoben.

Aber es kam eine Zeit, da wurde es seiner Vorzüge müde, ja, sie schienen ihm sogar unvollkommen und mangelhaft, und wenn es sich im Spiegel eines Wassers betrachtete, so freute es sich nicht mehr an seinem Abbild wie früher.

Kurz und gut, das Pferd wurde unzufrieden mit der Schöpferarbeit des guten Gottes, der es geschaffen hatte, und dachte, und dachte weiter, dass es selber eigentlich besser wüsste, wie es auszusehen hätte.

Das Pferd nahte sich deshalb dem Thron des Zeus und sprach:
»Vater aller Tiere und Menschen, man sagt, ich sei eines der schönsten Geschöpfe, die du erschaffen hast, und meine Eigenliebe heißt es mich ebenso glauben. Aber sollte nicht doch noch verschiedenes an mir zu verbessern sein?«

»Und was meinst du denn, das an dir noch zu verbessern sei? Ich lasse mich gerne belehren«, sagte der gute Gott und lächelte.

»Vielleicht«, sprach das Pferd weiter, »würde ich noch schneller sein, wenn meine Beine höher und schmächtiger wären. Ein langer Schwanenhals würde mir ebenfalls gut stehen. Eine breitere Brust würde meine Stärke zusätzlich vermehren. Und da du mich dazu bestimmt hast, deinen Liebling, den Menschen zu tragen, so könnte mir ein Sattel angewachsen sein, den mir bis jetzt der Reiter immer erst auflegen muss.«

»Gut!« antwortete Zeus. »Gedulde dich einen Augenblick!«

Und mit ernstem Gesicht sprach Zeus das Wort der Schöpfung. Da quoll plötzlich Leben im Staub am Boden, da regte es sich, da verband es sich, und plötzlich stand vor seinem Thron – ein nicht gerade schönes Kamel.

Das Pferd sah es mit großen Augen an, schauderte und zitterte jetzt vor lauter Abscheu.

»Hier sind höhere und schmächtigere Beine!« sprach Zeus.
»Hier ist ein langer Schwanenhals und eine breitere Brust! Und hier ist der angewachsene Sattel! Willst du, liebes Pferd, dass ich dich so umbilden soll?«

Das Pferd zitterte noch immer und brachte kein einziges Wort mehr hervor.

»Geh jetzt«, fuhr Zeus fort, »dieses Mal sei belehrt, ohne bestraft zu werden. Damit du dich aber deiner Vermessenheit dann und wann erinnerst, lebe dieses neue Geschöpf fort«.

Nochmals warf Zeus einen kurzen Blick auf das Kamel und sprach weiter zum Pferd: »Liebes Pferd, betrachte das Kamel nie, ohne dich an deine Arroganz zu erinnern und zu erschaudern.«

Zeus und das Pferd · Fabel Arroganz · Gotthold Ephraim Lessing

Jeder Tag ist ein kleines Leben, das heißt: ein zu bewältigendes Angebot und nicht ein Berg, den wir nicht übersteigen können.

Liselotte Nold