Psychologie der Entselbstung

Psychologie der Entselbstung · R.M.F · Alltagspsychologie

Rausch und Maske haben gemeinsam, dass sie über der Wirklichkeit des Ich-Daseins, über seiner realen Struktur und seinem realen Erlebnis-Bestand, ein Bewusstsein zu entzünden streben, das nicht deren Abspiegelung ist, sondern sich davon löst: sei es, dass es in der Maske eine andere Ich-Wirklichkeit vortäuscht oder im Rausch, für Augenblicke wenigstens, die reale Wirklichkeit vergessen lässt oder sogar eine neue Wirklichkeit schafft.

Der sich maskierende Mensch will anderen und sich selbst ein neues ICH vorspielen, der sich berauschende Mensch will, wenigstens für kurze Zeit, ein anderes ICH werden.

Oft aber auch will der in der Maske sich berauschen und der im Rausch sich maskieren. Beide Lebensformen sind oft nur Vorstufen, Versuche, wirklich zu einem anderen ICH dauernd zu werden, das heißt sich zu wandeln, zu verwandeln, »wiedergeboren« zu werden, »den alten Adam abzustreifen« und eine neue Seele zu gewinnen.

Ist das überhaupt möglich? Ist das Bewusstsein wirklich imstande, sich von seinem körperlichen und seelischen Substrat zu lösen oder gar diese innerlich umzuformen?

Heißt das nicht, dass die Weichenstelle eines Bahnhofs, denn als solche erschien uns ja das Bewusstsein zu sein, sich zur Bahnhofs-Direktion machen will, dass es nicht nur den Dienst mit der Außenwelt vermitteln, sondern Körper wie Seele sich selbst vollkommen unterordnen möchte, so dass es nicht mehr der Diener, sondern der Herr des gesamten, in seiner gewöhnlichen Form zur Wesenlosigkeit verdammten, ICH ist?

Dass das Bewusstsein vielfach dieses Bestreben hat, begegnete uns bisher bereits mehrfach. Wir haben jetzt zu prüfen, inwieweit es wirklich möglich ist.

Schon früher fanden wir, dass das Bewusstsein niemals das ganze ICH repräsentiert. Es ist wie ein Licht in einem großen Palast, das zwar mannigfache Räume zu erleuchten vermag und sich überall dort entzündet, wo wichtige Dinge geschehen sollen, das auch nach außen hin das innere Leben in dem Haus repräsentiert und stets einen Teil der Außenwelt mit erleuchtet, das es jedoch niemals das Haus selber ist.

Aber das Bewusstsein möchte es sein, es möchte das ganze ICH seinem Willen gemäß umgestalten. Und da das nicht geht, so schafft es sich eine neue künstliche ICH-Vorstellung.

Diese ICH-Vorstellung ist nämlich nicht das Bewusstwerden unseres wirklichen ICH, sondern eine nutzbestimmte, systematische Fälschung, bestimmt, das ICH so darzustellen, wie es für das Leben dienlich erscheint. Denn das Leben ist so kompliziert, dass das ICH nicht nur andere vielfach über sein Wesen täuschen muss, sondern auch sich selbst.

Das Verfahren, wodurch das Bewusstsein es erreichen will, über sein reales Dasein hinauszukommen, ist zunächst, dass es aus dem Blickfeld seiner Bewusstheit alles ausscheidet, was ihm nicht passt, dagegen alles festhält, was seinen Wünschen angenehm ist.

Dieses Verfahren übt jeder Mensch unablässig aus, er mag es wissen und wollen oder nicht: er schiebt unerwünschte Gedanken beiseite und färbt und putzt die Vorstellung, die er von sich selbst hat, mit allen möglichen Mitteln heraus, oft dann am meisten, wenn er versucht, die Wahrheit über sich selbst zu erkennen.

Mit nichts kokettieren die meisten Menschen soviel als mit ihrem eigenen ICH im Spiegel: »Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?« fragen nicht nur böse Märchen-Stiefmütter; unbewusst stellt fast jeder Mensch an seinem Spiegel diese Frage und hofft, die Antwort zu hören, dass er selbst es sei; ja er übt allerlei Künste der Verstellung, damit er es glauben könne.

Unbewusst sucht jeder ein wenig schöner zu scheinen oder zu werden, als er ist. Ich meine das nicht in grob äußerlichem Sinne. Gewiss gibt es Menschen, die sich um ihr leibliches Aussehen nicht viel kümmern: aber auch diese tragen stets einen geistigen Spiegel mit sich, in dem sie sich beschauen, sei es auch nur, dass sie sich gelegentlich ihre Nicht-Eitelkeit, ihre Bescheidenheit oder ihre Tugend vor Augen führen.

Denn der Wunsch, die »Wahrheit« über sich selbst zu wissen, ist niemals von abstraktem Erkenntnisdrang eingegeben, sondern von der Tendenz, sich irgendwie über dies wirkliche Selbst zu erheben. Und dieses Wunder färbt immer die Tatsachen, wenn auch vielleicht nur in der perversen Art, dass sich das ICH in seinem Sünden-Bewusstsein, seiner Niedrigkeit oder seiner Zerknirschung gefällt.

Das macht alle Bücher der Selbstbetrachtung von Marc Aurel und Augustin über Montaigne und Rousseau bis zu modernsten Autobiographen hin für Psychologen zu einer so amüsanten Lektüre, dass die Verfasser selbst mit der ausgesprochenen Tendenz, sich so zu geben, wie sie sind, doch Maskerade und Selbst-Berauschung, ach so deutlich, treiben!

Es geht fast allen Menschen wie jener Gesellschaft bei Dostojewski, deren Mitglieder beschließen, es solle jeder seine schlechteste Tat erzählen, und die dann alle nur Handlungen berichten, in denen sie höchst ehrenwert erscheinen. Die Selbstkritik ist — Wilhelm Busch hat das in einem wahrhaft köstlichen Gedicht dargelegt — meist nur ein Mittel der Maskerade und der Selbstbeweihräucherung.

Der tiefste Grund aller Masken- und Rauschkünste ist eine Unzufriedenheit des ICH mit sich selbst, die sowohl äußere wie innere Gründe haben kann.

Äußere Gründe liegen dann vor, wenn das ICH der Rolle, die das Leben von ihm fordert oder die es im Leben beansprucht, nicht gewachsen ist. Die inneren Gründe sind komplizierter: sie stehen oft mit den äußeren Verhältnissen in einem Zusammenhang, können aber auch auf einem Zurückbleiben des ICH hinter einem im Innern der Seele selbst entstandenen Idealbild beruhen.

All unsere Triebe, Wünsche und Sehnsüchte sind ja, wie Plato am »Eros« gezeigt hat, Produkte eines Habens und eines Nicht-Habens: sie wurzeln im ICH, streben alle darüber hinaus und verdichten sich in der Regel zu einem mehr oder weniger klar erschauten Idealbild, das der Seele vorschwebt, das sie noch nicht ist, aber werden möchte.

Da aber das in Wirklichkeit nicht immer zu erreichen ist, so spielt das ICH wenigstens diese Ideal-Rolle. Die meisten Menschen sind mehr oder weniger Schauspieler ihrer eigenen Ideale, und da sie oft mehrere Ideale nebeneinander haben, so spielen sie gelegentlich auch recht weit von ihrem Normal-Ich abliegende Rollen, indem sie »Masken« annehmen oder sich in mehr oder weniger gestaltlosen Rausch emporsteigern, um in der Endlichkeit Unendliches zu erleben.

Psychologie der Entselbstung · R.M.F · Alltagspsychologie

Die beste Weise, sich um die Zukunft zu kümmern, besteht darin, sich sorgsam der Gegenwart zuzuwenden.

Thích Nhất Hạnh