Der Kuckuck von Borrowdale

Der Kuckuck von Borrowdale · Märchen aus England · Frühling

Borrowdale ist ein schönes Tal in Cumberland, aber im Winter dringt dort kaum ein Sonnenstrahl hinein. Manchmal ist der Schnee so tief, dass niemand in das Tal hinein und niemand mehr heraus kann. Für Wochen sitzen die Bewohner gefangen. Die Flüsse und Wasserfälle frieren zu, und ein bitterkalter Wind heult durch das Tal.

Wenn dann der Frühling kommt, freuen sich die Menschen dieser Gegend mehr als anderswo. Die Flüsse tauen wieder auf, der Weißdorn beginnt zu blühen und Pfingstrosen und Glockenblumen stehen in den Wiesen und in den Wäldern. Und den ganzen Tag ruft der Kuckuck über die Felder hinweg.

Jeder ist vergnügt im Frühling und wünscht sich, dass diese Jahreszeit möglichst lange dauern möge. Also sprachen eines Jahres die Leute von Borrowdale zueinander: »Warum soll der Frühling vorbeigehen? Der Kuckuck ist doch der Frühlingsvogel. Wenn wir es fertig bringen, dass er hier bei uns im Tal bleibt, dann haben wir vielleicht immer den Frühling.«

»Aber wie wollt ihr denn den Kuckuck hier behalten?« fragte ein kleiner Junge naseweis, denn Kinder müssen eben immer Fragen stellen.

Die Leute schwiegen verlegen und dachten lange und anstrengend nach. Es war etwas beschämend für sie, dass ausgerechnet ein Kind auf diesen kritischen Punkt hingewiesen hatte. Schließlich sprach eine alte Frau sehr weise: »Wir werden eine hohe Mauer quer vor den Eingang des Tales bauen. Dann kann der Kuckuck nicht mehr wegfliegen.«

Gesagt, getan. Die Mauer am Taleingang wurde in Angriff genommen. Die Männer luden Steine auf Wagen, und die Frauen kamen mit Schubkarren. Selbst jedes Kind brachte einen Stein herbei. Die Männer errichteten die Mauer ohne Mörtel, wie es im Norden von England üblich ist, indem sie einfach die Steine so aufeinanderlegten, dass sie ganz fest saßen und selbst der stärkste Wind die Mauer nicht hätte umblasen können.

Die Männer arbeiteten lange und viel und die Frauen trugen das Essen herbei. Die Kinder spielten »Wir sind römische Legionäre«. Und die Schafe machten blöde Gesichter und schauten verwundert dem Treiben der Menschen zu.

Es dauerte sehr lange, ehe die Mauer fertig war. Das Wetter war gut, die Sonne schien, der Wind wehte, und alle Leute, die beim Bau beschäftigt waren, sahen sonnenverbrannt und gesund aus, weil sie so viele Stunden an der frischen Luft geschafft hatten.

Tag für Tag wuchs die Mauer höher und Tag für Tag ließ der Vogel seinen Ruf erschallen: »Kuckuck! Kuckuck!« – »Ruf nur immer weiter«, sagte die alte Frau, »du hast jetzt alle Zeit der Welt, jetzt, da du immer bei uns bleiben wirst.«

»Aber Großmutter«, sagte der kleine Junge, »der Kuckuck hat doch Flügel. Wird er nicht fortfliegen?« – »Nicht, wenn die Mauer erst einmal fertig ist«, antwortete die Großmutter, und alle lachten über den kleinen Jungen, der so dumme Fragen stellte.

Endlich war die Mauer fertig. Der Kuckuck schien gefangen zu sein. Alle waren so müde, dass sie sich auf der Stelle hinfallen ließen, an der sie gerade gestanden hatten.

Am nächsten Morgen erwachten die guten Leute. Jetzt wollten sie sich endlich um die Bestellung ihrer Felder kümmern und die Frauen wollten zuhause mit dem Frühjahrsputz beginnen. Vor lauter Arbeit an der Mauer war dies bis jetzt nicht möglich gewesen.

Aber jetzt würde für immer im Tal der Frühling sein! – »Großmutter«, fragte der kleine Junge, der nie seinen Mund halten konnte, »wo ist jetzt eigentlich der Kuckuck?«

Ja, wo in aller Welt war den jetzt der Kuckuck! Plötzlich rief jemand: »Da… seht mal!«

Der Kuckuck flog außerhalb der Mauer herum und ließ spöttisch seinen Ruf erschallen. »Kuckuck! Kuckuck!«

Dann sah man, wie der graue Vogel davon flog, und es war still im Tal. Die Leute schauten betrübt dem Vogel nach. Dann wandten sie sich wieder ihrer Mauer zu.

»Zu dumm, dass wir sie nicht um einen Stein höher gebaut haben«, sagten sie zueinander, »dann wäre der Kuckuck uns bestimmt nicht entkommen. Das ist sicher!«

Aber vorher gingen sie erst einmal noch reichlich frühstücken.

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Tue niemandem unrecht und enthalte niemandem die Wohltaten vor, zu denen du verpflichtet bist.

Aventin