Heimkehr des Odysseus

Heimkehr des Odysseus · Griechische Sage · Odyssee

Als der listenreiche Odysseus, dessen hölzernes Pferd die Stadt des Priamos zu Fall gebracht hatte, zur Heimkehr rüstete, ahnte er nicht, welch schweres Los die Götter ihm beschieden hatten. Seine Sehnsucht trieb ihn heim nach Ithaka, wo seine Frau, die schöne Penelope, mit ihrem jungen Sohn Telemachos auf ihn wartete.

Der Fahrtwind trug Odysseus und seine Gefährten jedoch zunächst zur Stadt der thrakischen Kikonen, wo die Griechen grausam wüteten, die Männer wurden erschlagen oder vertrieben und Frauen und Beute untereinander geteilt. Odysseus mahnte die Gefährten zwar, eilig das Land zu verlassen; aber verlockt durch die reichen Vorräte, folgten sie ihm nicht und schmausten am Gestade, bis die geflohenen Kikonen zurückkehrten und voller Rachedurst über sie herfielen.

Nur mit Mühe und nach schweren Verlusten retteten sich die Griechen vor der Übermacht der Angreifer aufs Meer hinaus. Die Griechen waren froh, der Gefahr entronnen zu sein, und segelten westwärts, der Heimat zu. Bald jedoch gerieten sie in einen Orkan aus Norden, in dem das Schiff ohnmächtig auf den Wellen hin und her geschleudert wurde.

Endlich, am zehnten Tage, gelangten sie an die Küste der Lotophagen. Dieses gutmütige Völkchen, das glücklich und unbeschwert sein Dasein lebte, wie die Götter es ihm bestimmt hatten, kannte – wie schon ihr Name besagte als tägliche Speise nichts anderes als die Lotosfrucht, die süß wie Honig mundet.

Für die Landfremden ist sie von eigentümlicher Wirkung: Wer von ihr genießt, der hat keinen anderen Wunsch, als ewig im Land zu bleiben, und vergisst ganz die Heimreise. Odysseus ging hier an Land, um sich mit frischem Wasser zu versorgen. Zwei seiner Gefährten, die er auf Kundschaft ausgesandt hatte, wurden von den Lotophagen freundlich aufgenommen. Sie bekamen aber den Lotos zu kosten, und die Frucht verfehlte ihre Wirkung nicht: nur mit Gewalt konnte Odysseus seine Gefährten auf die Schiffe zurücktreiben. Er musste sie im Schiffsraum festbinden; so groß war ihr Drang, in dem verlockenden Lande wohnen zu bleiben.

Auf der weiteren Irrfahrt landeten die Griechen bald darauf an einer Insel, die dicht bewaldet und ganz unbewohnt war. Ziegeninsel nannten Odysseus‘ Gefährten das Eiland; denn Herden von wilden Ziegen grasten hier sorglos und ohne alle Scheu vor lauernden Jägern. Von einer Nachbarinsel hörten die Heimkehrer jedoch Menschenlaute herüberklingen, und so machte sich Odysseus, von Abenteuerlust getrieben, mit zwölf ausgewählten Gefährten auf, die Insel zu erkunden. Einen großen Schlauch köstlichen Weines nahm er mit, den der Priester der Kikonen ihm geschenkt hatte zum Dank, dass Odysseus sein Haus bei der Plünderung verschont hatte.

Auf jener Insel hausten in Felshöhlen des Gebirges die einäugigen Kyklopen. Sie kannten weder einen König noch Gesetze und lebten von den Erträgen ihrer Schafherden. Sorgsam verbarg Odysseus sein Schiff in einer geschützten Bucht und ging an Land, wo er von fern eine mächtige Felsenhöhle, rings umbaut von einem Steinwall, erblickte. Hier hauste der Kyklop Polyphem, ein Mann von riesiger Gestalt, der mit niemand Umgang hatte und seine Ziegen und Schafe auf weit entfernten Berghängen weidete.

Er war ein Sohn des Meeresgottes Poseidon; in den Armen des ungeschlachten Wesens lag so viel Kraft, dass er mit einem Felsen, den ein Mensch auf vierrädrigem Karren nicht von der Stelle hätte ziehen können, ohne Mühe den Eingang seiner Höhle versperren konnte. Odysseus ahnte noch nichts von der frevlerischen, hinterhältigen Gesinnung der Kyklopen, als er mit seinen Gefährten die offene Höhle betrat, deren Herr mit seinen Schafen noch auf der Weide war.

Wunderlich erschien den Seefahrern der Anblick der Ställe, die voll von Jungtieren waren. Dort standen Körbe und Kübel mit Käse und Milch, die Gefäße für die Zubereitung und Eimer zum Melken. Unbesorgt setzten sich die griechischen Männer nieder, entzündeten ein Opferfeuer und verzehrten, um ihren Hunger zu stillen, ein paar Käse.

Als am Abend der ungefüge Kyklop mit seiner Herde am Eingang der Höhle erschien, sah er die ungebetenen Gäste nicht sogleich. Er ließ eine gewaltige Last trockenen Scheiterholzes auf den Boden fallen, so dass die Griechen angesichts solcher Kraft in den innersten Winkel der Höhle flüchteten. Dann trieb er seine Tiere hinein und versperrte den Höhleneingang mit dem mächtigen Felsblock.

Unbemerkt sahen Odysseus und seine Gefährten, die sich zu ihrem Entsetzen jetzt in der Gewalt des Kyklopen wussten, eine Weile zu, wie Polyphem seine Tiere melkte, die Milch verarbeitete und Feuer entzündete. Da entdeckte er im Schein der Flammen plötzlich voller Überraschung die Griechen. »He, ihr Fremdlinge, wer seid ihr?« rief er sie mit Donnerstimme an. »Woher kommt ihr über das Meer gefahren? Seid ihr Seeräuber, oder was treibt ihr?«

»Griechen sind wir, die von Troja kommen«, entgegnete der kühne Odysseus, berichtete von seinem Unglück und bat für sich und seine Gefährten um gastfreundliche Aufnahme. Statt aller Antwort packte der Kyklop zwei der Griechen, zerschmetterte sie an der Felsmauer wie junge Hunde und fraß sich an ihnen satt. Unbekümmert hörte er das Klagegeschrei der Männer und ihre Gebete zu Zeus. Dann schlürfte er einen Kübel voll Milch zu der widerwärtigen Mahlzeit und legte sich zum Schlafe nieder.

Odysseus zog das Schwert, um den schnarchenden Unhold zu töten. Doch sogleich besann er sich eines Besseren. Wer würde den Felsblock von dem Höhleneingang wälzen, wenn der ungeschlachte Kraftmensch tot wäre? Mit seinem Anschlag hätte Odysseus sich und seine Gefährten zu elendem Hungertode verurteilt.

Als der Morgen dämmerte, erlebten sie von neuem die scheußliche Grausamkeit des Kyklopen. Wieder ging er an seine üblichen Verrichtungen, zerriss dann zwei der Gefährten und verspeiste sie mit tierischem Behagen. Hierauf schob er mühelos den Stein vom Eingang, trieb die Herde hinaus und verrammelte die Höhle. Nur ein klug ersonnener Anschlag konnte noch die Eingeschlossenen retten.

Den ganzen Tag über schmiedeten die Griechen Pläne, wie sie sich befreien könnten. Schließlich kam Odysseus ein Gedanke, der ausführbar schien. Er nahm die gewaltige Keule des Kyklopen aus grünem Olivenholz, die lang und dick war wie ein Mastbaum, hieb einen Teil davon ab und spitzte ihn mit Hilfe der Gefährten an. Dann härteten sie die geglättete Spitze im Feuer und verbargen die Waffe sorgfältig unter dem Mist, der den Boden der Höhle bedeckte.

Am Abend erschien der Kyklop, trieb die Herde hinein und verschloss sorgfältig den Zugang; er melkte die Tiere und stellte die Milch beiseite, packte zwei der Gefährten, tötete sie und sättigte sich. Da goss Odysseus den Wein aus dem Schlauch in einen Holzkrug und bot ihn dem Kyklopen an. Schmunzelnd trank Polyphem und ließ sich noch einmal einschenken. »Nenne mir doch deinen Namen«, sagte er, »damit auch ich dir ein Gastgeschenk machen kann!« Odysseus schenkte ihm dreimal voll, und mit Behagen schlürfte der dumme Kyklop. Schon sah Odysseus, wie sich ihm die Sinne umnebelten.

»Meinen Namen begehrst du zu wissen?« sprach er. »So höre: Niemand heiße ich, und Niemand nennen mich Vater und Mutter. – Nun aber gib mir auch dein Gastgeschenk, wie du es versprochen hast!« »Es sei«, versetzte der Unhold höhnisch und begann trunken zu lallen: »Niemand soll der letzte sein, den ich von euch allen verzehre. Das sei mein Gastgeschenk für dich!« Damit taumelte er rücklings nieder und fiel in tiefen Schlaf.

Jetzt war die Stunde der Rettung gekommen. Sogleich holte Odysseus den vorbereiteten Pfahl aus dem Versteck hervor, glühte die Spitze noch einmal im Feuer und rief seine Gefährten auf. Ein Gott gab ihnen Mut zu dem kühnen Wagestück. Alle packten mit starken Armen zu, und im Nu bohrten sie dem Schlafenden den glühenden Pfahl ins Auge. Mit aller Kraft drückten und drehten sie ihn tief hinein, dass das Auge zischend auslief.

Vor der Höhle sammelten sich die anderen Kyklopen, die das Gebrüll des Rasenden herbeigelockt hatte. »Was ist dir denn geschehen, Polyphem«, riefen sie, »dass du uns aus dem Schlafe schreckst?« »Wehe«, schrie der Kyklop. »Wehe! Niemand tötet mich! Niemand tut es mit hinterhältiger List!« »Wenn niemand dir Gewalt antut«, versetzten die anderen ungerührt, »so werden wir dir nicht helfen können. Gegen solche Krankheiten mag höchstens dein göttlicher Vater, der Meeresbeherrscher Poseidon, ein Heilmittel wissen.«

Damit entfernten sie sich lachend. Wie froh war Odysseus, dass seine List die Kyklopen getäuscht hatte! Aber immer noch drohte den Eingeschlossenen Gefahr. Sie mussten das wütende Suchen des Geblendeten überstehen, der in allen Winkeln blindlings herumtappte, um die Griechen zu entdecken. Beim Morgengrauen setzte sich der Kyklop vor den Höhleneingang, schob den Stein halb zur Seite und tastete unbeholfen mit seinen Händen umher, damit die Griechen nicht zugleich mit den Tieren hinaus schlichen.

Indessen hatte er nicht mit der Klugheit des Odysseus gerechnet. Dieser wählte unter den Böcken immer drei und drei mit dickbuschiger Wolle aus, band sie mit Weidenruten zusammen und ließ von dem mittleren jeweils einen der Gefährten, der sich an der Wolle des Bauches festhielt, hinaustragen. Einen besonders starken Widder mit wolligem Fell behielt Odysseus für sich zurück.

Sorgfältig betastete der ungefüge Kyklop jeden Tierrücken. Doch glücklich gelangten die Gefährten in ihrem Versteck und nach ihnen auch Odysseus unter dem Bauch des starken Widders an ihm vorbei ins Freie. Polyphem streichelte das Tier, das Odysseus trug, klagte ihm tief betrübt sein Leid und ahnte dabei nicht die Nähe seines Feindes. Sorgfältig verschloss er die Höhle, in der er die Griechen gefangen wähnte. Diese waren unterdessen bereits mit den geraubten Tieren ans Ufer geeilt und stießen bald darauf vom Land ab.

»Heda, Kyklop!« rief Odysseus zur Insel hinüber. »Merkst du nun, dass du in Odysseus einen ebenbürtigen Gegner gefunden hast? Dich hat die Strafe des richtenden Zeus und der anderen Götter getroffen!« In rasendem Zorn packte der Riese ein gewaltiges Felsstück und schleuderte es in die Richtung, aus der die Stimme zu ihm herüber klang. Er hatte gut gezielt, denn der Block fiel dicht an der Wand des Schiffes nieder, dass es im Wogenschwall schwankte, und fast hätte die Brandung es an den Strand geworfen.

Mit allen Kräften ruderten die Griechen aufs Meer hinaus und entkamen endlich auf die Ziegeninsel, wo die übrigen Gefährten schon in Sorge warteten. Neue wundersame Abenteuer hatten die Heimkehrer zu bestehen. Kurze Zeit nach dem Erlebnis mit Polyphem gelangten sie wieder zu einer einsamen Insel. Sie gingen an Land, und Eurylochos führte einen Teil der Gefährten zu einem Haus, aus dem man vom Ufer her Rauch aufsteigen sah. Dabei mussten sich die Griechen sehr über die Menge der fremden Tiere wundern, die ihnen in Rudeln begegneten.

Es war das Reich der Kirke, der Tochter des Sonnengottes. Sie besaß die verderbliche Kraft, Kräuter zu kochen, deren Genuss die Menschen in Tiergestalt verwandelte. Auch die Griechen entgingen diesem Schicksal nicht. Nur Eurylochos rettete sich vor dem Zauber der verführerischen Göttin. Mit Grauen meldete er Odysseus, dass alle seine Begleiter in Schweine verwandelt seien. Das Schwert in der Faust, machte Odysseus sich sogleich auf den Weg, um sie zu befreien.

Unterwegs begegnete ihm Hermes, der Götterbote, und warnte ihn vor den Ränken der Göttin. Der Beschützer aller Wanderer und Seefahrer gab ihm ein Mittel, das Kirkes Zaubertrank unwirksam machen sollte. Die arglistige Kirke, die Odysseus freundlich aufnahm, sah mit unverhohlener Schadenfreude, wie Odysseus die ihm dargebotene Speise genoss; aber heimlich hatte er sein Gegenmittel beigemischt. Plötzlich berührte ihn Kirke mit ihrem Zauberstab und sprach: »So wandere nun auch du in den Schweinekoben zu deinen Freunden!«

Wie bestürzt war sie, als der Zauber nicht wirkte! Odysseus trat ihr mit gezücktem Schwert entgegen, bis sie voller Angst vor ihm nieder fiel und flehend seine Knie umfasste. Erst als sie einen heiligen Eid geschworen, die Gefährten in menschliche Gestalt zurückzuverwandeln, schenkte Odysseus ihr Vertrauen und gab sie frei. Von nun an lebten die Heimkehrer als Kirkes Gäste auf der Insel und erholten sich bald von allen Mühen der Seefahrt, und so angenehm wusste die schöne Göttin den Helden den Aufenthalt zu bereiten, dass sie ein ganzes Jahr dort verweilten.

Als die Gefährten endlich, von Heimweh getrieben, zur Abfahrt drängten, bat Odysseus die Göttin um Entlassung. Sie willigte schweren Herzens ein, versah die Seefahrer reichlich mit Speise und Trank und gab ihnen gute Ratschläge mit auf den Weg.

Gefährliche Abenteuer standen den Helden noch bevor. Ihr Weg führte sie zunächst auf Kirkes Geheiß in die Unterwelt der abgeschiedenen Seelen, wo der Thebaner Teiresias, dem durch Persephones Gunst auch im Tod die Sehergabe verblieben war, Odysseus die Zukunft enthüllte: »Die glückliche Heimfahrt, die du so sehnlich wünschest, wird ein Gott dir erschweren, und du kannst dich seiner Hand nicht entziehen. Weißt du nicht, wie tief du Poseidon verletzt hast, da du seinem Sohne Polyphem das Auge blendetest? Doch alles wird dir, wenn auch unter unsäglichen Mühen, gelingen, sofern du auf der Insel Thrinakia die Stiere des Helios unangetastet lässt. Hüte dich, auch nur einen von ihnen zu töten!«

Nachdem Odysseus noch mit den Seelen der alten Kampfgefährten Zwiesprache gehalten und auch Agamemnons trauriges Geschick erfahren hatte, kehrte er mit seinen Genossen zu den Schiffen zurück. Bald darauf hatten die Seefahrer die Gefahr der Sirenen zu bestehen, die die Vorüberfahrenden mit verführerischem Zaubergesang ins Verderben locken. Als Odysseus sie nahe wusste, folgte er Kirkes Rat: mit dem Wachs, das sie ihm mitgegeben, verklebte er den Gefährten die Ohren; sich selber aber ließ er an den Mastbaum binden. »Wenn ich euch bitte, mich loszubinden, so verdoppelt die Stricke«, gebot er den Gefährten. So ruderten sie den Sirenen entgegen.

Und wirklich, die sangeskundigen Nymphen, wunderbar verlockende Mädchengestalten, streckten vom Ufer her verlangend die Arme nach ihnen aus, und so lieblich klangen ihre Weisen, dass Odysseus ihrem Zauber zu erliegen drohte. »Bindet mich los!« winkte er den Gefährten zu, die mit den wachsverklebten Ohren nichts von dem Gesang vernahmen. Da banden sie ihn doppelt fest, und erst als der zauberische Klang weit hinter ihnen verhallt war, lösten sie seine Fesseln.

Bald nach der Begegnung mit den Sirenen bemerkten die Seefahrer von ferne Wasserstaub und eine mächtige Brandung. Das war eine Meerenge mit der Charybdis, dem unter einem Felsen dreimal täglich hervorquellenden Strudel, der jedes Schiff, das ihm zu nahe kam, in die Tiefe riss. Wer aber zum gegenüberliegenden Felsen hin ausweichen wollte, der geriet in den Bereich der Skylla, die mit sechs langen Hälsen und Köpfen und riesigen Fangarmen schon viele der Vorübersegelnden verschlungen hatte.

»Rudert so schnell wie möglich und mit aller Kraft!« befahl Odysseus den Gefährten, als sie die schroffe Felsenge gewahrten. »Und du, Steuermann«, fügte er hinzu, »halte das Schiff auf der rechten Seite!« Von der schrecklichen Skylla sagte er nichts, denn sonst hätten sich die Ruderer wohl alle im Schiffsraum verkrochen. In jeder Faust einen Speer, so stand Odysseus auf dem Deck des Schiffs und starrte in Todesangst in den immer enger werdenden Meeresschlund hinab.

Schon war der Strudel der Charybdis glücklich umschifft, da tönte plötzlich Wehgeschrei zu ihm herüber – das Ungeheuer der Skylla zerrte mit seinen Fangarmen sechs der Ruderer in die Luft, so wie ein Fischer seine zappelnde Beute an der Angel hinaufschwingt. Ohnmächtig musste Odysseus den schrecklichen Tod seiner besten Gefährten dulden; denn er musste das Schiff vorantreiben, um weiterem Unglück zu entgehen.

Nachdem die Griechen Schrecken und Trauer überwunden hatten, sichteten sie die herrliche Insel Thrinakia, und schon von ferne hörten sie das Gebrüll der heiligen Rinder des Sonnengottes Helios. Vergeblich bat Odysseus die Freunde, an dieser Insel vorüber zu fahren: »Lasst uns der Versuchung widerstehen, denn an dieser Insel hängt unser Schicksal!« Als sie schworen, die geweihten Tiere nicht zu berühren, ließ sich Odysseus betören, mit ihnen für eine kurze Rast an Land zu gehen. Doch dann blieb günstiger Fahrtwind lange Zeit aus, und es stellte sich nagender Hunger ein.

Da erwachte in den Gefährten die böse Begierde; sie brachen den Schwur und töteten heimlich die besten Rinder. Odysseus drängte darauf, eilig die Insel zu verlassen. Aber noch nicht lange waren sie wieder auf hoher See, da erhob sich ein schweres Unwetter, in dem das Schiff, von einem Blitzschlag getroffen, zerbarst und in den Fluten versank. Einzig Odysseus rettete sich, auf dem zerbrochenen Mast reitend, aus dem Verderben. Nach neun Tagen gelangte er, mit den bloßen Händen rudernd und vom Wind getrieben, zu einer Insel. Es war die Wohnstätte der Nymphe Kalypso, die den Schiffbrüchigen freundlich aufnahm und ihn pflegte.

Neun Jahre verbrachte Odysseus bei der göttlichen Kalypso, die ihn zum Gemahl begehrte. So brach das zwanzigste Jahr an, seit Odysseus die Heimat und Frau und Kind verlassen hatte. Wenn auch Poseidon ihm unerbittlich zürnte, so hatten doch die Götter Mitleid mit dem so lange von der Heimat Getrennten, und als der Meeresgott einst nicht anwesend war im Rat der Götter, erhob Athene für ihren Schützling Odysseus die Stimme und bat um Hilfe für den Armen, der seit so viel Jahren, trotz seiner Sehnsucht nach Weib und Kind, von der Nymphe Kalypso gefangen gehalten werde.

Der Göttervater Zeus ließ sich schließlich durch Athenes Bitte bewegen, Hermes mit einer Botschaft zur Insel der Kalypso zu senden. Hermes fand die Nymphe auf der üppigen Insel in ihrer Grotte; Odysseus aber saß, wie er es Tag für Tag zu tun pflegte, einsam am Gestade und blickte in tiefem Gram über das Meer hinaus, dorthin, wo Ithaka, seine Heimat, liegen musste.

Odysseus wollte es kaum glauben, als Kalypso zu ihm trat und ihm auf des Gottes Befehl die Freiheit schenkte. »Nicht länger will ich dich gegen deinen Willen halten, edler Odysseus«, sagte sie freundlich. »Ein Schiff kann ich dir nicht geben, doch zimmere dir ein Floß, so werde ich dich für die Reise ausstatten und dir guten Fahrtwind geben. Mögen dann die Götter dich glücklich in die Heimat geleiten.«

Eifrig ging Odysseus an die Arbeit, baute ein großes Floß mit Segelmast und Steuerruder und vertraute sich dem Meere an. Schnell trug ihn der Wind dahin, und schon war er der Heimat nahe, da gewahrte Poseidon, der auf dem Wege zum Olymp war, den verhassten Feind auf der Meeresflut. Sogleich peitschte er mit seinem Dreizack die Wogen und ließ die See rasen, dass Odysseus den Tod vor Augen sah. Wie glücklich pries er die Gefährten, die vor Trojas Mauern einen schnellen Tod gefunden hatten! Plötzlich riss ihn eine gewaltige Woge vom Floß herab und schleuderte ihn ins Meer.

Schwimmend erreichte der Held mit letzter Kraft wieder das Floß, schwang sich hinauf – da zerschmetterte Poseidon mit einer gewaltigen Woge das Fahrzeug. Odysseus, der sich seines nassen Gewandes noch entledigen konnte, stürzte ins Meer. Als Poseidon den Schiffbrüchigen seinem Schicksal überließ, trugen die Wogen ihn an ein Gestade, an dem er in tiefer Erschöpfung nieder sank. Es war die Insel Scheria, auf der Odysseus Rettung fand; im dichten Unterholz des nahen Waldes suchte er Schutz gegen die kalte Meeresluft.

Das Volk der Phäaken bewohnte die reiche und fruchtbare Insel. Die Göttin Athene gab der schönen Königstochter Nausikaa im Traum ein, mit ihren Freundinnen zum Meeresstrand hinauszufahren, um die Wäsche des Königshofes zu waschen. Fleißig verrichteten die Mädchen ihre Arbeiten, setzten sich sodann zum Essen und beschlossen den Tag mit fröhlichem Tanz und Ballspiel am Strande.

Da geschah es, dass der Ball sein Ziel verfehlte und ins Wasser fiel. Der Lärm, mit dem die Mädchen das Missgeschick begleiteten, drang an das Ohr des Mannes, der sich in der Nähe des Spielplatzes dem Schlaf hingegeben hatte. Odysseus erwachte und horchte. Dann erhob er sich und trat, seine Blöße mit einem dicht belaubten Zweig deckend, aus dem Gebüsch hervor.

Die Mädchen schrien vor Entsetzen, als sie den von Meeresschlamm beschmutzten, bärtigen Mann bemerkten. Sie glaubten, ein Meeresungeheuer vor sich zu haben, und liefen verstört davon. Nur die Königstochter Nausikaa blieb stehen und betrachtete halb neugierig, halb furchtsam den Fremden. Odysseus fürchtete, sie zu erschrecken; deshalb redete er das schöne Mädchen ehrerbietig von ferne an. Er bat Nausikaa, dem armen Schiffbrüchigen ein Kleid zu schenken und ihm den Weg zu Menschenwohnungen zu zeigen.

Die liebliche Königstochter nannte dem Fremdling ihren Namen Nausikaa und den ihres Vaters Alkinoos, der das friedliebende Volk der Phäaken beherrsche. Nachdem Odysseus gebadet und die Kleider, die Nausikaa ihm gab, angelegt hatte, folgte er den heimkehrenden Mädchen, die ihn mit heimlichem Staunen betrachteten, in die Stadt und stand schließlich vor dem prächtigen Königspalast, der inmitten ansehnlicher Gärten lag. Nur zaghaft betrat er den Festsaal, wo die vornehmsten Phäaken beim Mahl versammelt waren.

Alle blickten erstaunt auf den Fremden, der sich flehend vor der Königin neigte und sich dann bescheiden neben das Herdfeuer setzte. Sogleich ließ König Alkinoos ihn zur Tafel führen und ihm gastfrei Willkommenstrunk und Speise reichen.

Der leidgeprüfte Odysseus wurde fröhlich gestimmt, als das gütige Königspaar versprach, ihn zu Schiff in seine Heimat zurückzuführen. »Vater Zeus«, betete er zum höchsten der Götter, »gib du, dass König Alkinoos alles vollendet, was er mir verheißt. Lass mich endlich meine Heimat wiedersehen!« Seinen Namen aber hatte Odysseus nach gebotener Sitte dem gastfreien Phäakenkönig nicht genannt.

Am nächsten Tage führte Alkinoos ihn mit in die Versammlung auf dem Marktplatz, und das Volk erklärte sich gern bereit, den Fremden auf einem guten Schiff in seine Heimat zu geleiten. Nun füllten sich Höfe und Hallen zu fröhlichem Mahl, man aß und trank und freute sich an den Liedern des Sängers, der vom Heldenkampf der Griechen vor Troja kündete, und nach dem Mahl maßen sich die jungen Männer im Wettkampf auf der Sandbahn.

Odysseus lehnte es ab, sich an den Kämpfen zu beteiligen. »Mein Sinn ist nicht auf Kampfspiel, sondern auf Heimkehr gerichtet«, sagte er traurig. Da meinte einer der jungen Wettkämpfer, den unbekannten Fremdling verhöhnen zu dürfen. »Ein Held scheint er mir nicht zu sein«, rief er spottend, »vielleicht ist er ein reisender Handelsmann, der um Gewinnes willen sich aufs Meer hinausgewagt hat!«

Odysseus blickte finster bei dieser Schmähung. Dann nahm er einen Diskus, größer und schwerer als die, mit denen die Jünglinge geworfen hatten, schwang ihn im Kreis und ließ ihn durch die Luft sausen, dass er weit über die Zeichen der besten Kämpfer hinaus nieder fiel. »Auch zu jedem anderen Wettkampf bin ich bereit«, rief er unmutig. Alle schwiegen vor Verwunderung, und niemand wagte die Herausforderung anzunehmen, nachdem der Fremde seine Überlegenheit mit der Wurfscheibe gezeigt hatte.

Wohlgefällig schaute nun Odysseus den Jünglingen zu, die auf Alkinoos‘ Geheiß ihre Tänze vorführten. »Nie habe ich junge Menschen schöner tanzen sehen als hier bei euch im Phäakenlande«, bekannte er. Dann lauschte man den Liedern des blinden Sängers, der wieder zum Klang seiner Lyra von den Taten der Griechen erzählte. Er besang auch den klugen Ratgeber Odysseus, der mit der List des hölzernen Pferdes den Griechen zum Siege verholfen hatte. Mit innigster Rührung vernahm Odysseus das Lob seiner eigenen Taten.

Keiner der Phäaken ahnte, dass der Held, dessen Ruhm hier im Liede erklang, mitten unter ihnen weilte. Er barg sein Haupt in seinem Mantel und vergoss heimliche Tränen. Alkinoos bemerkte es. »Mach ein Ende mit deinem Lied«, rief er dem Sänger zu,,»denn es scheint nicht allen Freude zu bereiten. Unser Gast hört nicht auf, seinem Gram nachzuhängen, seit der Gesang erklingt!« »Sage uns jetzt, Fremdling«, wandte sich der König an Odysseus, »was uns zu wissen ziemt! Nenne uns deinen Namen! Wie heißest du, wer sind deine Eltern und aus welchem Lande stammst du?«

Alle saßen in stummer Erwartung und blickten auf den Gefragten. »Glaube doch ja nicht, edler Alkinoos, dass mir der Sänger keine Freude bereitet!« erwiderte Odysseus. »Ihr lieben Gastfreunde fragt mich jetzt nach meinem Namen und nach meinem Schicksal. So wisset: Ich bin Odysseus von Ithaka, des Laërtes Sohn, dessen Taten der Sänger verkündet hat.« Mit Überraschung und Staunen blickten die Phäaken auf den Helden.

»Zum erstenmal beklage ich den Verlust meiner Augen«, rief der Sänger, »weil ich den Mann nicht leibhaftig sehen kann, dessen herrlichen Tatenruhm ich so oft besungen habe!« Die Halle klang wider von Jubel und Heilruf; alle umdrängten voll Bewunderung den hochberühmten Helden. Lange saß Odysseus im Kreis der Festversammlung und erzählte den atemlos lauschenden Phäaken von seinen wundersamen Abenteuern und von den Leiden, die er hatte erdulden müssen, seit er mit seinen Gefährten Trojas Strand verlassen hatte.

Am frühen Morgen bestieg Odysseus das Schiff, das ihn in die Heimat führen sollte. Reich beschenkt schied er von den gastfreundlichen Phäaken. Leicht wie ein Vogel glitt das Schiff über die unbewegte Meeresflut, und als es am nächsten Morgen Ithakas Küste berührte, lag der göttliche Dulder, für den ein weiches Lager auf dem Hinterdeck ausgebreitet worden war, in tiefem Schlummer. Behutsam, um seinen Schlaf nicht zu stören, nahmen die Ruderer die Zipfel seiner Decke auf, trugen den Helden an Land und betteten ihn sanft im Schatten eines Baumes. Die Geschenke stellten sie neben ihn. Dann wandten sie den Schiffsbug zur phäakischen Küste und ruderten heimwärts.

Trüber Nebel lag über der Insel, als Odysseus nach langem Schlaf erwachte. Der Arme erkannte die Heimat nicht wieder, Bäume und Felsen schienen ihm fremd, und er fragte sich verzweifelt, wo er wohl sein mochte. Da erschien ihm Athene, seine Schutzgöttin, und sprach ihm Trost zu: »Du bist am Ende deiner Irrfahrten, edler Odysseus«, sagte sie freundlich, »denn du stehst auf dem Boden deiner Heimat Ithaka.«

Die Göttin gebot ihm, vorsichtig zu Werke zu gehen, um seinen Besitz zurückzuerlangen. »Niemand darf etwas von deiner Rückkehr erfahren«, sagte sie; »denn die Freier, die deine Frau Penelope bedrängen, sind mehr als hundert an der Zahl. Du musst in Erfahrung bringen, auf wessen Freundschaft du bauen darfst und musst dir eine Anzahl zuverlässiger Helfer sichern.«

Mit ihrer göttlichen Zauberkraft verwandelte Athene den Helden in einen armseligen, in Lumpen gekleideten Bettler; unkenntlich gemacht, sollte Odysseus leichter alle Vorbereitungen treffen können, um sein Ziel zu erreichen. Auf Athenes Geheiß suchte er zunächst den Sauhirten Eumaios auf, der seinem verschollenen Herrn die Treue hielt und die anmaßenden Freier hasste. Der biedere Eumaios ahnte nicht, wem er seine Gastfreundschaft erwies, als er den armen Bettler in seiner Hütte aufnahm.

Hier begegnete Odysseus auch Telemach, seinem Sohn, den er volle zwanzig Jahre nicht gesehen hatte. Wie glücklich war der Vater über den Sohn, der zu einem blühenden Jüngling herangewachsen war! Athene erschien an der Pforte des Gehöftes, winkte Odysseus zu sich und verwandelte ihn zurück in seine eigene kraftvolle Gestalt. Angetan mit einem kostbaren Mantel, stand Odysseus plötzlich vor dem Sohn, der ihn in ängstlichem Staunen für einen Gott hielt.

»Nein, ich bin kein Gott!«, rief Odysseus in tiefer Rührung, »ich bin dein Vater, um den ihr so lange habt trauern müssen!« Da erst wagte Telemach, den geliebten Vater unter heißen Freudentränen innig zu umarmen. Nun galt es, den Plan der Vergeltung zu schmieden. Als Bettler wollte Odysseus seinen Palast betreten und alle Kränkungen der Freier geduldig ertragen. Telemach sollte niemandem von des Vaters Rückkehr berichten und alles für die Befreiung vorbereiten.

Um Odysseus nicht zu verraten, gab Athene dem Heimgekehrten die armselige Bettlergestalt wieder zurück; so erfuhr auch der gute Sauhirt nicht, was sich vor seiner Hütte zugetragen hatte. Als Odysseus tags darauf vor seinem Königspalast stand, lauschte er lange dem festlichen Lärm der übermütigen Gäste. Neben dem Haus, auf dem Mist, ruhte sein alter Hund Argos, der ihn vor vielen Jahren auf mancher frohen Jagd begleitet hatte. Das treue Tier erkannte Odysseus sofort, wedelte mit dem Schweife und mühte sich, seinem Herrn nahe zu kommen. Doch seine Lebenskraft erlosch bei diesem letzten Beweis der Treue.

Odysseus, den die Rührung übermannte, wandte sich ab und trat ins Haus. Mit welchen Gefühlen schritt der Held in der zerlumpten Bettlertracht durch die Räume, in denen er einst als König gelebt hatte! Um ein Stück Brot bittend, stand er vor den Freiern. Er wollte prüfen, ob nicht wenigstens einer sich freigebig und edelmütig zeigen werde; doch er erntete nichts als kränkenden Schimpf. Bis an den Abend dauerte das lärmende Treiben, das Zechen und Prassen der frechen Eindringlinge.

Odysseus aber sann auf Rache. Als die Freier endlich gegangen waren, trug Telemach alle Waffen aus dem Saal in eine entlegene Kammer. Athene selber hielt die goldene Lampe empor, und Telemach verwunderte sich, wie die Wände des Saales, die fichtenen Balken, die schönen Gesimse und ragenden Säulen im Feuerschein erglänzten.

Auch Penelope, die sich tagsüber vor den Freiern verborgen hatte, trat jetzt in den Saal, setzte sich in ihren elfenbeinernen Sessel und ließ sich von dem fremden Bettler, der ihr seltsam vertraut war, von seinen Fahrten berichten. Doch sie erkannte den eigenen Gemahl nicht. »Tröste dich, oh Königin«, sagte Odysseus, »dein Gatte wird zurückkehren, noch ehe der neue Mond erscheint.«

Jetzt rief Penelope die treue Verwalterin ihres Haushalts, Eurykleia, herbei. »Wasche unserm fremden Gast die Füße«, gebot sie ihr; »er ist müde vom Staub des Weges.« Die Alte goss frisches Wasser ins Becken und heißes dazu und begann, Odysseus die Füße zu waschen. Plötzlich stutzte sie und starrte auf eine lange Narbe, die der Fremde am Fuß trug; sie stammte von einer alten Wunde, die ein Eber dem Odysseus vorzeiten auf der Jagd geschlagen hatte.

Die Alte ließ den Fuß fallen, dass er das Becken umstieß. »Wirklich«, rief sie in freudigem Erschrecken, »du bist es, bist Odysseus! Erst jetzt erkenne ich dich!« Sie wandte sich voller Glück, um Penelope die frohe Botschaft zu verkünden; doch Odysseus hielt sie zurück, damit sie das Geheimnis seiner Rückkehr nicht vorzeitig verrate.

Tags darauf, am Fest des Apollon, herrschte wieder reges Leben im Haus. Die ungebetenen Gäste saßen beim festlichen Mahl, trieben ihre Scherze mit dem Bettler, und einer schleuderte gar voller Hohn einen Rinderfuß nach ihm. »Telemach soll nun endlich seine Mutter bestimmen, sich für einen von uns zu entscheiden«, rief ein anderer; »mit Odysseus‘ Heimkehr ist doch jetzt nicht mehr zu rechnen!«

Zum Schein stimmte Telemach diesem Verlangen zu, und auf Athenes Gebot legte Penelope selber den Freiern den Bogen ihres Gemahls vor: ein Wettschießen solle entscheiden, wem sie die Hand zum Ehebund reichen werde. »So mag es den Wettkampf gelten!« rief sie den Freiern zu. »Sieger sei, wer den mächtigen Bogen des göttlichen Odysseus am leichtesten spannt und einen Pfeil durch die Öhre von zwölf hintereinander aufgestellten Äxten hindurch schießt! Ihm will ich als Gemahlin folgen.«

Aber keiner von den Freiern vermochte die Bedingung zu erfüllen. Unterdessen hatte Odysseus sich dem treuen Schweinehirten zu erkennen gegeben. »Geh und schließe die Türen des Saales und des Hofes, Eumaios!« gebot er ihm leise. Dann trat er vor die Freier. »Wollt ihr nicht auch mir gestatten, mich an dem Bogen zu versuchen?« fragte er. Hohnlachend und unter Beschimpfungen wiesen sie ihn ab.

Penelope aber verbot ihnen die Spottreden. »Dem Fremden soll die Bitte gewährt sein! Er wird nicht danach trachten, mich zur Gemahlin zu gewinnen. Doch gelingt ihm der Versuch, so sollen ein schönes Gewand, Spieß und Schwert sein Lohn sein.«

»Über den Bogen habe nur ich zu verfügen«, nahm Telemach das Wort und wandte sich an seine Mutter: »Du aber geh ins Frauengemach und widme dich deinen Arbeiten. Hier im Saal gilt es Männertat.«

Penelope erstaunte über Telemachs Worte, doch sie fügte sich schweigend und verließ den Saal. Aus Eumaios‘ Hand nahm Odysseus nun den Bogen. Unter dem tobenden Geschrei der Freier schwang er ihn leicht und prüfte, ob er nicht etwa in der Zeit, da er selber fern war, von Würmern zernagt sei. Mühelos spannte der Held den Bogen und ließ die Sehne erklingen.

Als die Freier das sahen und hörten, erblassten sie. Vom Himmel sandte Zeus einen Donnerschlag als glückverheißendes Zeichen. Da legte Odysseus einen Pfeil auf die Sehne, spannte und schoss. Nicht eines der Öhre verfehlte er. Dann wandte er sich an Telemach: »Wirklich, mein Sohn, der Fremdling in deinem Saal macht dir keine Schande. Siehst du nun, dass die alte Kraft noch in mir lebendig ist? Jetzt ist die Stunde der Vergeltung gekommen!«

Telemach und der treue Eumaios traten an seine Seite. Beide waren mit Speer und Schwert bewaffnet. Da warf Odysseus die hässlichen Bettlerlumpen ab, sprang auf einen hohen Erker des Saales und breitete die Pfeile griffbereit vor seinen Füßen aus. »Der Wettkampf ist nun vollbracht, ihr Freier! Jetzt wartet ein Ziel, wie es noch keiner getroffen hat!«

Damit richtete er sein Geschoss auf Antinoos, den übermütigsten der Freier. Der wollte eben einen Becher zum Mund führen, da traf ihn der Pfeil in die Kehle. Ein wildes Getümmel erhob sich, als der Getroffene zu Boden stürzte, den Tisch mit den kostbaren Speisen mit sich reißend. Tobend schalten die Freier auf Odysseus ein; denn sie dachten, er habe Antinoos ohne Absicht erschossen. Noch ahnten sie nicht das bevorstehende Verderben.

»Ihr Elenden!« rief Odysseus jetzt mit Donnerstimme, »ihr glaubtet, ich käme nie mehr aus der Fremde zurück in die Heimat! Jetzt ist die Stunde gekommen, da ich Rache nehme für alles, was ihr mir und den Meinen angetan habt!« Entsetzen ergriff die Freier. Endlich ermannten sich einige und versuchten, Odysseus mit dem Schwert anzugreifen; doch erbarmungslos ereilte sie alle das unfehlbare Geschoss des Heimgekehrten.

Der Estrich dampfte von Blut; nicht einer der Freier entging dem Verderben. Auf des Odysseus Ruf kam jetzt Eurykleia herbei. Die Alte wollte frohlocken, als sie die Erschlagenen in ihrem Blut liegen sah; doch Odysseus hielt sie zurück. »Töricht ist es, sich über den Tod von Menschen zu freuen. Durch göttliche Fügung haben sie sterben müssen; denn durch ihren Frevel haben sie selber dieses schmähliche Ende verschuldet!«

Nach seinem Geheiß trugen nun die Mägde die Toten hinaus und reinigten den Boden samt den Sesseln und Tischen. Eurykleia räucherte mit Schwefel und Feuer die große Halle aus. Dann eilte sie zum Gemach hinauf, wo Penelope ruhte. »Wach auf, Herrin«, rief sie in freudiger Erregung,,»und sieh mit eigenen Augen, wonach du seit Jahren Tag für Tag verlangt hast! Odysseus, dein Gemahl, ist heimgekehrt. Er hat an den Freiern, die dich seit so viel Jahren bedrängt haben, Rache geübt!«

Penelope glaubte, die treue Alte treibe ihren Spott mit ihr, und wollte sie unwillig zurechtweisen. »Wie sollte ich wohl meinen Spott mit dir treiben, Herrin?« versetzte Eurykleia. »Odysseus ist wirklich und leibhaftig heimgekehrt; der Fremde, den alle im Saale mit Spottreden verhöhnt haben, war niemand anders als er. Telemach hat von allem gewusst, doch klug hat er des Vaters Vorhaben geheimgehalten.«

Da sprang Penelope voller Freude vom Lager auf und umarmte die Alte unter Tränen. Sie stieg zum Saal hinab und setzte sich Odysseus gegenüber in den Schein des Feuers. Aber ihr Mund blieb stumm. Bald meinte sie, sein Gesicht zu erkennen, bald schien es ihr fremd. Erst als Odysseus ihr Wahrzeichen nannte, die nur ihr bekannt waren, konnte sie nicht mehr an der Wahrheit zweifeln. Weinend hielt sie ihn umschlungen und bedeckte sein Haupt mit Küssen. Da wusste Odysseus, dass er endlich heimgekehrt war.

Heimkehr des Odysseus · Griechische Sage · Odyssee

Je höher gesteigert das Bewusstsein ist, desto deutlicher die Gedanken, desto klarer die Anschauungen, desto inniger die Empfindungen.

Arthur Schopenhauer