Die geprüfte Treue

Die geprüfte Treue · Sage aus dem Orient · Eid des Hippokrates

Der Kalif Mutewekul hatte einen fremdländischen Arzt, Namens Honain, welchen er wegen seiner großen Wissenschaft sehr verehrte. Einige Hofleute machten ihm diesen Mann aber aus Neid verdächtig und sagten, da derselbe ein Ausländer sei, so könne man sich auf seine Treue nicht verlassen.

Der Kalif wurde daher unruhig und wollte ihn prüfen. Er ließ ihn zu sich kommen und sagte: »Honain, ich habe unter meinen Emiren einen gefährlichen Feind, gegen den ich seines starken Anhangs wegen keine Gewalt brauchen kann. Daher befehle ich dir, dass du ein feines Gift zubereitest, das an dem Toten keine Spur von sich zurück lässt. Ich will ihn morgen zu Gast laden und mich seiner auf diese Weise entledigen.«

»Herr,« antwortete Honain mit getroster Zuversicht, »meine Wissenschaft erstreckt sich auf Arzneien, die das Leben erhalten; andere kann ich nicht zubereiten. Ich habe mich auch nie bemüht, es zu erlernen, weil ich glaubte, dass der wahre Beherrscher der Gläubigen keine solchen Kenntnisse von mir fordern würde. Habe ich aber hierin Unrecht getan, so erlaube mir, deinen Hof zu verlassen.«

Mutewekul antwortete, dies sei eine leere Entschuldigung; wer die heilsamen Mittel kenne, der wisse auch um die schädlichen. Er bat, er drohte, er versprach ihm sogar Geschenke. Umsonst; Honain blieb bei seiner Antwort. Endlich stellte sich der Kalif erzürnt, rief die Wache und befahl, diesen widerspenstigen Mann in das Gefängnis zu werfen.

Das geschah dann auch und ein Kundschafter des Kalifen, welcher unter dem Schein eines Gefangenen zu ihm gesetzt wurde, sollte ihn ausforschen und dem Kalifen von Allem, was Honain sagen würde, Nachricht geben.

So unwillig Honain auch war, so ließ er sich doch mit keinem Wort gegen den Mitgefangenen anmerken, warum der Kalif auf ihn zürne. Alles, was er hierüber sagte, bestand nur darin, dass ihm Unrecht geschehen sei.

Nach einiger Zeit aber ließ der Kalif Honain wieder vor sich bringen. Auf einem Tisch lagen ein Haufen Gold, Diamanten und wunderschöne Stoffe; daneben aber stand der Henker mit einer Geisel in der Hand und einem Schwert unter dem Arm.

»Du hast Zeit gehabt,« fing Mutewekul an, »dich zu bedenken und das Unrecht deiner Widerspenstigkeit einzusehen. Nun wähle: entweder nimm diese Reichtümer und tue meinen Willen, oder bereite dich zu einem schimpflichen Tod vor.«

»Herr,« antwortete Honain, »die Schande besteht nicht in der Strafe, sondern in dem Verbrechen. Ich kann sterben, um nicht die Ehre meiner Wissenschaft und meines Standes zu beflecken. Du bist Herr meines Lebens; tue was dir gefällt.«

»Geht alle hinaus!« rief der Kalif zu den Umstehenden, und als er allein war, reichte er dem gewissenhaften Honain die Hand und sprach: »Honain, ich bin mit dir sehr zufrieden; du bist mein Freund, und ich bin der deinige. Man hatte mir deine Treue verdächtig gemacht; ich musste deine Ehrlichkeit prüfen.

Nicht zur Belohnung, sondern als ein Zeichen meiner Freundschaft werde ich dir diese Reichtümer da schenken, die deine Tugend nicht verführen konnten.«

So sprach der Kalif und befahl, das Gold, die Edelsteine und die Stoffe in Honains Haus zu bringen.

Die geprüfte Treue · Sage aus dem Orient · Eid des Hippokrates

Welche Regierung die beste sei? Diejenige, die uns lehrt, uns selbst zu regieren.

Johann Wolfgang von Goethe