Die Stadt- und die Landmaus

Die Stadt- und die Landmaus · Aesop Fabel · Zufriedenheit

Eine Landmaus hatte ihre Freundin, eine Stadtmaus, zu sich eingeladen und empfing sie in ihrer sehr bescheidenen Wohnung aufs freundlichste. Um ihren Mangel der sehr verwöhnten Städterin nicht merken zu lassen, hatte sie alles, was das Landleben Gutes bot, herbeigeschafft und aufgetischt.

Da waren frische Erbsen, getrocknete Traubenkerne, Hafer und auch ein Stückchen Speck, wovon die Landmaus nur bei außergewöhnlichen Gelegenheiten aß. Mit großer Genugtuung überschaute sie ihre Tafel und unterließ nicht, ihrer Freundin unablässig zuzusprechen.

Aber die Stadtmaus, durch die vielen gewohnten Leckereien verwöhnt, beroch und benagte die Speisen nur sehr wenig und stellte sich der Höflichkeit halber so, als wenn es ihr schmecke, konnte aber doch nicht umhin die Gastgeberin merken zu lassen, dass alles sehr wenig nach ihrem Geschmack gewesen sei.

»Du bist eine recht große Törin«, sprach sie zu ihr, »dass du hier so kümmerlich dein Leben fristest, während du es in der Stadt so glänzend führen könntest wie ich. Gehe mit mir in die Stadt unter Menschen, dort hast du Vergnügen und Überfluss.« Die Landmaus entschloss sich nun auch in die Stadt zu reisen und machte sich zum Mitgehen bereit.

Schnell hatten sie die Stadt erreicht, und die Städterin führte sie nun in einen Palast, in welchem sie sich hauptsächlich aufzuhalten pflegte. Sie gingen in den Speisesaal, wo sie noch die Überbleibsel eines herrlichen Abendschmauses vorfanden.

Die Stadtmaus führte ihre Freundin sodann zu einem prachtvollen, mit Damast überzogenen Sessel, bat sie, Platz zu nehmen, und legte ihr von den sehr leckeren Speisen vor. Lange nötigen ließ sich die Landmaus nicht, sondern verschlang mit Heißhunger all die ihr dargereichten Leckerbissen.

Ganz entzückt war sie davon und wollte eben in große Lobsprüche ausbrechen, als sich plötzlich die Flügeltüren öffneten und eine Schar Diener hereinstürzte, um die Reste des Mahles abzuräumen. Bestürzt und zitternd flohen beide Freundinnen, und die Landmaus, unbekannt in dem großen Haus, rettete sich gerade noch mit Mühe in eine Ecke des großen Raumes.

Kaum hatte sich die Dienerschaft entfernt, als sie auch schon wieder hervorkroch und noch vor Schrecken zitternd zu ihrer Freundin sprach: »Lebe wohl! Einmal und nie wieder! Lieber will ich meine ärmliche Nahrung in Frieden genießen, als hier bei den ausgesuchtesten Speisen zu schwelgen und stets um mein Leben fürchten zu müssen.«

Lehre: Genügsamkeit und Zufriedenheit machen glücklicher als Reichtum und Überfluss unter großen Sorgen.

Die Stadt- und die Landmaus · Aesop Fabel · Zufriedenheit

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Es gibt nichts auf der Welt, das einen Menschen so sehr befähigt, Schwierigkeiten zu überwinden, als das Bewusstsein eine Aufgabe zu haben.

Viktor Frankl