Der Mensch ist ein Prothesengott

Der Mensch ist ein Prothesengott · Hans Joachim Störig

Irgend jemand … ich denke, Sigmund Freud ist es gewesen … hat den Menschen einen »Prothesengott« genannt.

In der Tat, es gibt Tiere, schneller, größer, stärker als der Mensch, besser geschützt gegen Kälte, Hitze oder äußere Feinde, fruchtbarer oder feinhöriger. Doch sein überlegenes Gehirn erfindet Hilfsmittel, Verlängerungen seiner Wirkungsmöglichkeiten, Prothesen, mit deren Hilfe er den Erdkreis unterwirft und nach seinem Willen gestaltet.

Seine Hand, als Werkzeug ein Wunder an Vielseitigkeit, ist schwach. Aber er verstärkt sie durch einen Faustkeil, dann durch Hammer, Axt, Zange, durch Hebel und Flaschenzug; dann zähmt er Dampfkraft und Elektrizität und baut Drehbänke, Kräne, gigantische Pressen und Walzstraßen.

Von Natur aus auf seinen zwei Beinen nur mäßig beweglich, zähmt er das Reittier, erfindet das Rad, zimmert den ersten Wagen, baut Automobile, Eisenbahnen, Schiffe, Flugzeuge, schließlich Weltraumraketen.

Neben diesen Bewegungsprothesen … alle Hebel und Räder der Welt sind letztlich verlängerte und verstärkte Arme und Beine … stehen auch Sinnesprothesen.

Brille, Fernrohr, Mikroskop, Röntgenstrahlen, Elektronenmikroskop und Radar vervielfachen die Leistungsfähigkeit des Auges und lassen uns in Bereiche des Allerkleinsten und Allerfernsten blicken, die uns ohne sie ewig verschlossen blieben.

Hörrohr, Mikrofon, Lautsprecher, Telefon, Telegraf, Radio, Kopf- und InEar-Hörer sind Prothesen für das Ohr.

Diese Betrachtung führt aber noch weiter. Alle diese Prothesen verstärken die Wahrnehmung im Raum und die Wirkung auf die Materie.

Erfindungen wie die Ziffern, die Buchstabenschrift, die Buchdruckerkunst, die Photographie, die Schallplatte, das Tonband oder der Speicher im Internet, sie verlängern und verstärken unsere Wirkung und Wahrnehmung durch Dauer hinaus.

Solche Zeitprothesen oder auch Zeitkonserven entspringen dem Versuch des Menschen, seine Vergänglichkeit zu übertrumpfen und das, was er gelebt, gefühlt und gedacht hat, über den fliehenden Augenblick und die Vergänglichkeit des einzelnen Lebens hinaus zu fixieren und zu bewahren.

»Verweile doch, du bist so schön«, spricht er, wie Faust, zum Augenblick.

Der Mensch ist ein Prothesengott · Hans Joachim Störig · Essay

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Autor: Hans Joachim Störig

Bewertung des Redakteurs:
5

Manche Leute wären frei, wenn sie zu dem Bewusstsein ihrer Freiheit kommen könnten.

Marie von Ebner-Eschenbach