Der entflohene Vogel

Der entflohene Vogel · Märchen aus Italien · Graf und Fragen

Es war einmal ein reicher Graf, der hatte einen wunderschönen Kanarienvogel, den liebte er so sehr, dass er einen eigenen Diener anstellte, welcher den Vogel pflegen und füttern musste und der vor allem darauf achten sollte, dass der Vogel nicht entwiche.

Eines schönen Tages, in einem Augenblick, da der Diener gerade nicht aufpasste, war die Tür des Vogelkäfigs nicht ganz geschlossen: Der Kanarienvogel flatterte dagegen, so dass es sich öffnete, und entfloh. Der Diener wollte schier verzweifeln, denn er wusste genau, wie sehr sein Herr an dem Tier hing und wie sehr er ihm befohlen hatte, den Vogel ja nicht entfliehen zu lassen.

Es war indessen nichts mehr zu ändern, und als der Graf kam und sah, dass der Kanarienvogel nicht mehr in seinem Käfig saß, befahl er sogleich, den Diener aus dem Schloss zu jagen. Da begann der Diener zu weinen, denn er wusste nicht, wie er seine Familie ernähren sollte. Er begann den Grafen um Verzeihung und Gnade für seinen Fehler zu bitten und schwur, dass er sich eine ähnliche Unterlassung nie mehr zuschulden kommen lassen werde.

Da kämpften im Herzen des Grafen Zorn und Mitleid miteinander, und nach einer Weile sagte er: »Also gut, höre: wenn du mir bis morgen zwei Fragen beantworten kannst, dann sollst du im Schloss bleiben dürfen und deinen Dienst behalten. Kannst du mir jedoch keine Antwort bringen, so werde ich dich schlechterdings hinauswerfen lassen.« Da sprach der Diener: »Mein Herr, erzähle mir, was du willst, und ich will alles getreu erfüllen.«

»Schön, du musst mir bis morgen ausmessen, wie weit es von hier bis zum Himmel ist, und dann sollst du mir noch Antwort geben, aus wie vielen Steinen mein Schloss gebaut ist!« Der Diener versprach, die Antwort auf diese schwierigen Fragen zu suchen, und während ihm der Mut sank, ging er aus dem Palast hinaus.

Als er so weinend die Straße entlang schritt, begegnete ihm ein alter Freund und Gefährte, der fragte ihn nach der Ursache seiner Trübsal. Da erzählte ihm der Diener alles, was sich zugetragen hatte. »Ist das alles? Und deshalb bist du so verzweifelt?« fragte ihn sein alter Freund.

»Wenn es nicht mehr ist! Da kann ich dir leicht helfen und raten. Wenn du morgen zum Grafen gehst, dann wickle eine Spule Schnur um deine Hand und sage, so weit sei es bis zum Himmel hinauf! Und wenn er dich fragt, aus wie viel Steinen sein Palast gebaut sei, dann sage, aus zwei Millionen Steinen!«

Und er gab ihm noch einige Ratschläge, so dass der Diener getröstet nach Hause gehen konnte. Am nächsten Morgen begab sich der Diener zufrieden und seiner Sache sicher in den Palast und vor den Grafen. »Nun«, fragte ihn dieser, »hast du getan, was ich dir befohlen hatte?«

»Ja, Herr, und hier ist die Antwort!« Dabei zeigte der Diener die Schnur, die er um die Hand geschlungen hatte. »So weit ist es von hier bis zum Himmel.«

»Das ist nicht wahr«, schrie der Graf, »das kann unmöglich stimmen.«

»Dann laufe bitte zum Himmel hinauf und nimm dieses Ende der Schnur mit, mein Graf!« bat der Diener. »Ich will die Schnur abwickeln, und du wirst sehen, dass die Entfernung stimmt.« Der Graf dachte nach und sprach: »Nicht schlecht, du kannst recht haben. Aber nun antworte mir auf die andere Frage: Aus wie viel Steinen ist mein Palast gebaut?«

»Mein Graf, der Palast ist aus zwei Millionen Steinen gebaut.«

»Oh, das ist nicht wahr, das kann absolut nicht wahr sein!« schrie der Graf. »Doch, doch«, entgegnete der Diener, »es stimmt ganz genau, ich habe alle Steine gezählt, und wenn du mir nicht glaubst, dann bitte: gehe hin und zähle nach! Du wirst sehen: meine Rechnung stimmt!«

Da bewunderte der Graf die Klugheit seines Dieners und die Schlagfertigkeit seiner Antworten, und befahl, dass der Diener nicht nur in seinem Palast und in seinem Dienst bleiben solle, sondern er ließ ihm überdies eine beträchtliche Summe Geldes auszahlen. Der Diener aber verließ glücklich den Palast und eilte zu seinem Freund, um das Geld mit diesem zu teilen.

Der entflohene Vogel · Märchen aus Italien · Der Graf und die zwei Fragen

Die Definition des Bewusstseins ist Klarheit und Erkenntnis.

Dalai Lama