Das Märchen vom Buchweizen

Das Märchen vom Buchweizen aus Russland 

Vor vielen vielen Jahren lebte in den großen Weiten, die jetzt Russland heißen, eine alte Frau mit ihrer Enkelin. Deren Eltern waren früh durch ein Unglück ums Leben gekommen und so stelle das Kind für die alte Frau die einzige schöne Erinnerung an ihre Familie dar. Deshalb betrachtete sie das Mädchen auch als ihren kostbarsten Schatz und Besitz.

Da das Mädchen sehr schön war, sprach sich dies bald im ganzen Land herum. Aus diesem Grund kamen auch viele lustige Burschen und stattliche Männer, um die Schönheit zu sehen und um die Hand des Mädchens anzuhalten. Die alte Frau aber wollte von alledem nichts wissen. Sie schloss daher ihre Enkelin ins Zimmer ein und verbot ihr bei Entzug ihrer Liebe, das Haus zu verlassen.

Aber junges Blut lässt sich nicht so einfach einsperren und wenn die Schöne schon während des Tages nicht aus dem Haus konnte, weil die alte Frau vor der Türe saß, so entwich sie doch nachts durch das Fenster und streifte durch Wiesen, Felder und Wälder bis hin zu einem kleinen Weiher, wo sie sich an ihrem eigenen Spiegelbild, das sich im Mondlicht silbrig glänzend im Wasser abzeichnete, statt sehen konnte.

Und es kam, wie es kommen musste. Eines nachts überraschten umherstreifende Tataren das Mädchen und nahmen sie mit sich auf den Markt von Samarkand, wo sie als Sklavin verkauft werden sollte.

Das alte Mütterchen war untröstlich erschüttert über den Verlust des Mädchens und machte sich sofort auf die Suche nach ihrer Enkelin. Wohin waren die Tataren gezogen? Die alte Frau durchwanderte die großen Weiten Russlands und erzählte allen von ihrer schönen Enkelin — aber vergebens.

Als sie schon fast alle Hoffnung aufgegeben hatte, gelangte sie schließlich zu der Hütte eines Einsiedlers, eines uralten Mannes, der ihr geduldig zuhörte und, nachdem er lange nachgedacht hatte, auch die richtige Auskunft gab.

Ja, damit die Frau rasch nach der fernen Tatarenstadt gelangen konnte, schenkte er ihr ein paar Schuhe, mit denen sie bei jedem Schritt sieben Meilen zurücklegen konnte. Dazu gab er ihr ebenfalls noch einen besonderen Stab. Wenn sie mit dem dreimal auf den Boden stoße, so würde sich jeder Gegenstand, auf den sie blicke, in genau das verwandeln, was sie sich gerade wünschen würde.

Voller Freude nahm die alte Frau die zwei Geschenke an sich und in ihrer Angst, zu spät nach Samarkand zu kommen, rannte sie, ohne weiter nachzudenken, Hals über Kopf davon. In Samarkand angekommen, suchte sie sofort den Markt auf und siehe da: soeben wurden junge Mädchen verkauft; unter ihnen die Schönste, ihre Enkelin.

»Na wartet«, murmelte das Mütterchen bei sich. »Diese Suppe werde ich euch versalzen!« Sie fasste ihre Enkelin scharf ins Auge, stieß ihren Stock dreimal auf die Erde und murmelte: »Werde Du ein Korn!«

Augenblicklich war die Schöne verschwunden und niemand achtete auf das Mütterchen, die sich durchs Gewühl zwängte, sich bückte und ein unscheinbares Körnchen vom Boden aufhob. Sie steckte das Korn in ihre Tasche, war hocherfreut über ihre Tat und machte sich hämisch lächelnd auf den Heimweg.

Aber ach — zuhause angekommen, fiel ihr ein, dass sie in ihrer Hast und Eile vergessen hatte, den alten Einsiedler nach dem Lösungswort für die Rückverwandlung zu fragen. Was auch immer sie ausprobierte und den Stock auf die Erde stieß, das Korn blieb ein Korn und wieder musste sie weinen und vergoss bittere Tränen der Enttäuschung und des Kummers.

Schließlich war ein Jahr der Trauer vergangen und eines Tages öffnete das alte Mütterchen das Fenster, warf das Korn in den Garten und sagte: »Wenn ich dich nicht wieder haben kann, dann soll dich die Erde wieder bekommen.«

Ein Jahr darauf wuchs dort, wo das Korn auf die Erde gefallen war, eine seltsam blassrosa Blüte auf verknotetem Stängel: eine Rispe, die alsbald Körner trug, die so eckig und kantig aussahen, als hätte jemand Miniatur-Pakete geschnürt, Mini-Pakete für einen kleinen und köstlichen Inhalt.

Und noch etwas trug sich zu: Jahr für Jahr kamen immer mehr Menschen vorbei, denen das alte Mütterchen von ihrer Suche nach der Enkelin, ihrem Kummer und von der Schönheit ihrer neuen Pflanze im Garten erzählte. Alle waren voller Anteilnahme, die die Geschichte vernahmen und sie trugen auch alle, da sich die fremdartige Blume jährlich vermehrte, immer einige Körner mit nach Hause, um ebenfalls solche Blumen zu haben.

Schließlich blühten die blassrosa Blüten in ganz Russland und bald lernten die Menschen auch den Gebrauch der Körner. Es war eine Pflanze, die überall wuchs und reichlich Körner trug. Bald wurde der Buchweizen zum Brot der armen Leute und die Russen murmelten einander zu: »Gesegnet sie die, welche ihren liebsten Besitz weggegeben hat, um uns zu helfen.« Die Menschen konnten ja nicht ahnen, in welcher Stimmung die alten Frau »IHR« Korn weggeworfen hatte.

Aber siehe da, als dem alten Mütterchen die Aussage der Menschen zu Ohren gekommen war, verwandelten sich die Kerben ihres Grames auf ihrem Gesicht zu Falten des Lächelns und sie dachte bei sich: »So musste ich wohl lernen, zu geben was ich besaß, um zu erhalten, was ich brauchte: ewige Liebe und Dankbarkeit.«

Das Märchen vom Buchweizen aus Russland

AVENTIN Storys folgen ...

Viel Freude beim Lesen

Wer einen Engel sucht und nur auf die Flügel schaut, könnte eine Gans nach Hause bringen.

Georg Christoph Lichtenberg